B. Psychologie,


der Lehre von den Lebenstätigkeiten. Denn Seele (psychê) bedeutet bei Aristoteles, wie fast überall im Altertum, eigentlich nur: Leben, Lebensprinzip. Leib und Seele verhalten sich zueinander wie Stoff und Form, wie Auge und Sehkraft. Die Seele ist als »erste Entelechie des organischen lebendigen Körpers« dessen Form, bewegende Ursache und Zweck. Das Verdienst des Aristoteles besteht darin, dass er unter Benutzung seiner Vorgänger, besonders Demokrits, die psychologischen Tatsachen sorgfältig aufgezeichnet, klassifiziert und erklärt hat, somit der Begründer der empirischen Psychologie geworden ist.

Auch das seelische Prinzip entwickelt sich von einer niedersten bis zu einer höchsten Stufe. Die niedrigste ist 1. die Pflanzen- oder vegetative Seele (psychê threptikê), das Prinzip des Lebens überhaupt, der Ernährung und Fortpflanzung insbesondere, noch ohne Lebenszentrum (mesotês). Dies tritt in 2. der Tier- oder Sinnenseele (ps. aisthêtikê) hinzu und damit Tastsinn, Empfindung von Lust und Schmerz, Begierde, Ortsbewegung. Die höchste ist 3. die menschliche oder Vernunftseele (ps. logikê oder noêtikê). Die niedere Tätigkeit ist jedesmal in der höheren enthalten, »wie das Dreieck im Viereck« Auf dem Gebiete der Lehre von den Sinnen, von denen der Tastsinn der allgemeinste, unentbehrlichste und der größten Verfeinerung fähigste ist, hat Aristoteles zahlreiche wertvolle Anregungen gegeben.

Die durch die sinnliche Wahrnehmung der äußeren Gegenstände - beide stehen in genauer Korrespondenz - erweckten Vorstellungsbilder (phantasiai) hinterlassen in der Seele Eindrücke oder abgeschwächte Bilder, die das Gedächtnis (mnêmê) aufbewahrt. Diese unwillkürliche Erinnerung und ihre Folgen: Vorstellung, Empfindung und Begierde kommen auch der animalen Seele zu, die bewußte Erinnerung, das Sichbesinnen auf etwas (anamnêsis) nur dem Menschen. Aristoteles streift bereits (de anima III 2) das moderne Problem des Bewußtseins. Er redet von »einer Art Einheit der Seele« (hen ti psychês), »wodurch sie alles wahrnimmt« Es ist dies nicht als ein besonderes, neues Seelenzentrum zu verstehen, sondern als die bloß möglich gedachte Einheit der Sinnestätigkeit, die sich tatsächlich in den spezifischen Energien der einzelnen Sinne verwirklicht, eine Art »Gemeinsinn« (koinon aisthêtêrion), mit dessen kombinierender Tätigkeit, nebenbei bemerkt, die Möglichkeit des Irrtums eintritt. Zu einer erkenntnistheoretischen Bedeutung kommt es auch hier nicht, da Aristoteles ihn auch den meisten Tieren zuspricht und als seinen physiologischen Sitz - damit hinter Demokrit und Plato zurückgehend - nicht das Gehirn, sondern das Herz annimmt. Er unterscheidet nicht physische und psychische, sondern nur niedere und höhere Funktionen des Organismus.

Die dem Menschen eigentümliche Form der Seele, durch die sie »nachdenkt und auffaßt«, zu erkennen und zu wollen vermag, ist der Geist (nous). Er kann denken, wann und was er will, auch das Einfache und Unteilbare. Auch auf ihn findet die Unterscheidung von Stoff und Form Anwendung. Es gibt nämlich 1. einen »leidenden« (n. pathêtikos), 2. einen »tätigen« Geist (n. poiêtikos, bei Aristoteles selbst to poioun genannt). Jener ist formempfangend, dieser formgebend, jener mit dem Körper verbunden und vergänglich, dieser göttlich, leidlos und ewig; jener wird alles, dieser tut alles. Der »leidende« Geist gleicht einer unbeschriebenen Tafel, die jedoch bestimmt ist, beschrieben zu werden. Ohne Einwirkung »des Tätigen« ist er nicht zu denken, wie umgekehrt das letztere in dem an Vorstellung und Wahrnehmung gebundenen »leidenden« Geiste des Einzelindividuums erst zu seiner unablässig wirkenden Tätigkeit kommt. Freilich, erst losgelöst von diesem seinem vergänglichen Bruder, wird der eigentliche, der reine, der »göttliche« Geist, wie er einst vor der Zeugung »von oben herab« (eigentlich von außen her, thyrathen) in uns kam, erst zu seinem wahren und unsterblichen Sein gelangen. Ob damit eine persönliche Unsterblichkeit behauptet oder geleugnet ist, steht nicht mit Sicherheit fest, obwohl die Wage nach der letzteren Seite zu neigen scheint, woran die Averroisten des Mittelalters (§ 63) und die Naturphilosophen der Renaissance (II. Teil § 2) wieder anknüpfen. Bestimmteres über das Wesen des »leidenden« und seine Verbindung mit dem »tätigen« Geiste suchen wir bei Aristoteles vergeblich. Schon seine nächsten und eifrigsten Schüler waren über die Lehre vom Nus uneinig, und sie ist bis heute einer der umstrittensten Bestandteile seiner Philosophie geblieben. Schuld daran ist in erster Linie die das ganze, dualistische und des erkenntnistheoretischen Kriteriums ermangelnde, System durchziehende Doppeldeutigkeit des Meisters selbst.

Das letztere läßt sich endlich auch mit Bezug auf seine Ansicht von der menschlichen Willenstätigkeit sagen. Dieselbe ist einerseits körperlich bedingt, anderseits aber durch Überlegung geleitete, nur dem Menschen eigentümliche, Freiheit des Willens voraussetzende, »praktische Vernunft« (nous praktikos), die sich gedachte Zwecke zum Handeln setzt.

Allerdings sind auch Kinder und Tiere, obgleich ohne praktische Vernunft, im Besitze der Willensfreiheit. Damit sind wir an die Grenze der in die letzten Erörterungen bereits hineinspielenden Ethik gelangt.

 

Literatur: Die meisten naturwissenschaftlichen Schriften sind griechisch und deutsch mit sacherklärenden Anmerkungen in der Engelmannschen Sammlung (Leipzig) herausgegeben. Über sein Verhältnis zur Mathematik vgl. Görland, Aristoteles und die Mathematik, Marburg 1899, zur Zoologie: J. B. Meyer, Aristoteles' Tierkunde, Berlin 1855.


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