3. Die Äußerlichkeit des idealen Kunstwerks im Verhältnis zum Publikum

 

b) Die zweite Auffassungsart dagegen tut das Entgegengesetzte, indem sie sich bemüht, die Charaktere und Begebnisse der Vergangenheit soviel als möglich in ihrem wirklichen Lokal sowie in den partikulären Eigentümlichkeiten der Sitten und sonstigen Äußerlichkeiten wiederzugeben. Nach dieser Seite haben besonders wir Deutsche uns hervorgetan. Denn wir sind überhaupt den Franzosen gegenüber die sorgsamsten Archivare aller fremden Eigenheiten und verlangen deshalb auch in der Kunst Treue der Zeit, des Orts, der Gebräuche, Kleider, Waffen usf.; ebensowenig fehlt es uns an Geduld, uns mit saurer Mühe durch Gelehrsamkeit in die Denk- und Anschauungsweise fremder Nationen und entlegener Jahrhunderte hineinzustudieren, um ihre Partikularitäten uns anzubequemen; und diese Vielseitigkeit und Allseitigkeit, die Geister der Nationen aufzufassen und zu verstehen, macht uns auch in der Kunst nicht nur gegen fremde Sonderbarkeiten tolerant, sondern sogar allzu peinlich in der Forderung genauester Richtigkeit solcher unwesentlichen Außendinge. Die Franzosen erscheinen zwar gleichfalls als vielgewandt und tätig, aber so höchstgebildete und praktische Menschen sie auch sein mögen, um so weniger Geduld haben sie für ein ruhiges und anerkennendes Auffassen. Zu urteilen ist bei ihnen immer das erste. Wir dagegen lassen besonders in fremden Kunstwerken jedes treue Gemälde gelten; ausländische Pflanzen, Gebilde, aus welchem Reiche der Natur es sei, Geräte aller Art und Gestalt, Hunde und Katzen, selbst ekelhafte Gegenstände sind uns genehm; und so wissen wir uns auch mit den fremdartigsten Anschauungsweisen, Opfern, Legenden der Heiligen und ihren vielen Absurditäten sowie mit anderweitigen abnormen Vorstellungen zu befreunden. Ebenso kann es uns in Darstellung der handelnden Personen als das wesentlichste erscheinen, sie in ihrem Sprechen, ihren Trachten usf. um ihrer selbst willen, und wie sie wirklich ihrem Zeit- und Nationalcharakter nach für sich zu- und gegeneinander gewesen sind, auftreten zu lassen.

In neuerer Zeit, besonders seit Friedrich von Schlegels Wirksamkeit, ist die Vorstellung aufgekommen, daß die Objektivität eines Kunstwerks durch eine solche Art der Treue begründet werde. Deshalb müsse sie den Hauptgesichtspunkt ausmachen, und auch unser subjektives Interesse habe sich vornehmlich auf die Freude an dieser Treue und deren Lebendigkeit zu beschränken. Wird eine solche Forderung aufgestellt, so ist darin ausgesprochen, daß wir kein Interesse höherer Art in Rücksicht auf die Wesentlichkeit des dargestellten Gehalts sowie kein näheres Interesse heutiger Bildung und Zwecke mitbringen dürften. In dieser Art sind denn auch in Deutschland, als man durch Herders Anregung allgemeiner wieder anfing, auf das Volkslied aufmerksam zu werden, allerlei Liederarten im Nationaltone von Völkern und Stämmen einfacher Bildung gedichtet worden - irokesische, neugriechische, lappländische, türkische, tatarische, mongolische usf. -, und man hat es für eine große Genialität gehalten, sich ganz in fremde Sitten und Volksanschauungen hineinzudenken und -zudichten. Wenn sich nun aber auch der Dichter selbst vollständig in dergleichen Fremdartigkeiten einarbeitet und hineinempfindet, so können sie doch für das Publikum, das sie genießen soll, nur immer etwas Äußerliches sein.

Überhaupt aber bleibt diese Ansicht, wenn sie einseitig festgehalten wird, bei dem ganz Formellen der historischen Richtigkeit und Treue stehen, indem sowohl von dem Inhalte und dessen substantiellem Gewicht als auch von der Bildung und dem Gehalte der gegenwärtigen Anschauung und des heutigen Gemüts abgesehen wird. Von dem einen jedoch ist ebensowenig als von dem anderen zu abstrahieren, sondern diese beiden Seiten fordern ihre gleiche Befriedigung und haben die dritte Forderung historischer Treue in ganz anderer Weise, als wir bisher sahen, mit sich in Übereinstimmung zu bringen. Dies führt uns zu der Betrachtung der wahren Objektivität und Subjektivität, denen das Kunstwerk Genüge zu leisten hat.

 


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