c. Der Charakter

 

Eine andere Weise der Haltungslosigkeit des Charakters hat sich besonders in neueren deutschen Produktionen zu der inneren Schwäche der Empfindsamkeit ausgebildet, welche lange genug in Deutschland regiert hat. Als nächstes berühmtes Beispiel ist der Werther anzuführen, ein durchweg krankhafter Charakter, ohne Kraft, sich über den Eigensinn seiner Liebe erheben zu können. Was ihn interessant macht, ist die Leidenschaft und Schönheit der Empfindung, die Verschwisterung mit der Natur bei der Ausbildung und Weiche des Gemüts. Diese Schwäche hat später bei immer steigender Vertiefung in die gehaltlose Subjektivität der eigenen Persönlichkeit noch mannigfach andere Formen angenommen. Die Schönseelischkeit z. B. Jacobis21) in seinem Woldemar läßt sich hierher rechnen. In diesem Roman zeigt sich die vorgelogene Herrlichkeit des Gemüts, die selbsttäuschende Vorspieglung der eigenen Tugend und Vortrefflichkeit im vollsten Maße. Es ist eine Hoheit und Göttlichkeit der Seele, welche zur Wirklichkeit nach allen Seiten hin in ein schiefes Verhältnis tritt und, die Schwäche, den echten Gehalt der vorhandenen Welt nicht ertragen und verarbeiten zu können, vor sich selbst durch die Vornehmheit versteckt, in welcher sie alles als ihrer nicht würdig von sich ablehnt. Denn auch für die wahrhaft sittlichen Interessen und gediegenen Zwecke des Lebens ist solch eine schöne Seele nicht offen, sondern spinnt sich in sich selber ein und lebt und webt nur in ihren subjektivsten religiösen und moralischen Ausheckungen. Zu diesem inneren Enthusiasmus für die eigene überschwengliche Trefflichkeit, mit welcher sie vor sich selber ein großes Gepränge macht, gesellt sich dann sogleich eine unendliche Empfindlichkeit in betreff auf alle übrigen, welche diese einsame Schönheit in jedem Momente erraten, verstehen, verehren sollen. Können das nun die anderen nicht, so wird gleich das ganze Gemüt im tiefsten bewegt und unendlich verletzt. Da ist mit einem Male die ganze Menschheit, alle Freundschaft, alle Liebe hin. Die Pedanterie und Ungezogenheit, kleine Umstände und Ungeschicklichkeiten, über welche ein großer starker Charakter unverletzt fortsieht, nicht ertragen zu können, übersteigt jede Vorstellung, und gerade das sachlich Geringfügigste bringt solches Gemüt in die höchste Verzweiflung. Da nimmt denn die Trübseligkeit, der Kummer, Gram, die üble Laune, Kränkung, Schwermut und Elendigkeit kein Ende, und daheraus entspringt eine Quälerei der Reflexionen mit sich und anderen, eine Krampfhaftigkeit und selbst eine Härte und Grausamkeit der Seele, in welcher sich vollends die ganze Miserabilität und Schwäche dieser schönseelischen Innerlichkeit kundgibt. - Zu solcher Absonderlichkeit des Gemüts kann man kein Gemüt haben. Denn zu einem echten Charakter gehört, daß er etwas Wirkliches zu wollen und anzufassen Mut und Kraft in sich trage. Das Interesse für dergleichen Subjektivitäten, die immer nur in sich selber bleiben, ist ein leeres Interesse, wie sehr jene auch die Meinung hegen, die höheren, reineren Naturen zu sein, welche das Göttliche, das so recht in den innersten Falten stecke, in sich hervorbrächten und recht im Neglige sehen ließen.

In einer anderen Art ist dieser Mangel an innerer substantieller Gediegenheit des Charakters auch dahin ausgebildet, daß jene sonderbaren höheren Herrlichkeiten des Gemüts auf eine verkehrte Weise sind hypostasiert und als selbständige Mächte aufgefaßt worden. Hierher gehört das Magische, Magnetische, Dämonische, die vornehme Gespenstigkeit des Hellsehens, die Krankheit des Schlafwanderns usf. Das lebendig seinsollende Individuum wird in Rücksicht auf diese dunklen Mächte in Verhältnis zu etwas gesetzt, das einerseits in ihm selber, andererseits seinem Innern ein fremdartiges Jenseits ist, von welchem es bestimmt und regiert wird. In diesen unbekannten Gewalten soll eine unentzifferbare Wahrheit des Schauerlichen liegen, das sich nicht greifen und fassen lasse. Aus dem Bereiche der Kunst aber sind die dunklen Mächte gerade zu verbannen, denn in ihr ist nichts dunkel, sondern alles klar und durchsichtig, und mit jenen Übersichtigkeiten ist nichts als der Krankheit des Geistes das Wort geredet und die Poesie in das Nebulose, Eitle und Leere hinübergespielt, wovon Hoffmann und Heinrich von Kleist in seinem Prinzen von Homburg Beispiele liefern. Der wahrhaft ideale Charakter hat nichts Jenseitiges und Gespensterhaftes, sondern wirkliche Interessen, in welchen er bei sich selbst ist, zu seinem Gehalte und Pathos. Besonders das Hellsehen ist in der neueren Poesie trivial und gemein geworden. In Schillers Tell dagegen, wenn der alte Attinghausen im Augenblick des Todes das Schicksal seines Vaterlandes verkündigt, ist solche Prophezeiung am schicklichen Orte gebraucht. Die Gesundheit des Charakters aber mit der Krankheit des Geistes vertauschen zu müssen, um Kollisionen hervorzubringen und Interesse zu erregen, ist immer unglücklich; deshalb ist auch die Verrücktheit nur mit großer Vorsicht anzuwenden.

An solche Schiefheiten, welche der Einheit und Festigkeit des Charakters entgegenstehen, können wir auch noch das Prinzip der neueren Ironie sich anschließen lassen. Diese falsche Theorie hat die Dichter verführt, in die Charaktere eine Verschiedenheit hineinzusetzen, welche in keine Einheit zusammengeht, so daß sich jeder Charakter als Charakter zerstört. Tritt ein Individuum zunächst auch in einer Bestimmtheit auf, so soll dieselbe gerade in ihr Gegenteil überschlagen und der Charakter dadurch nichts als die Nichtigkeit des Bestimmten und seiner selbst darstellen. Dies ist von der Ironie als die eigentliche Höhe der Kunst angenommen worden, indem der Zuschauer nicht müsse durch ein in sich affirmatives Interesse ergriffen werden, sondern darüberzustehen habe, wie die Ironie selbst über alles hinaus ist. - In diesem Sinne hat man denn auch Shakespearesche Charaktere erklären wollen. Lady Macbeth z. B. soll eine liebevolle Gattin von sanftem Gemüt sein, obgleich sie dem Gedanken des Mordes nicht nur Raum gibt, sondern ihn auch durchführt. Aber Shakespeare gerade zeichnet sich durch das Entschiedene und Pralle seiner Charaktere selbst in der bloß formellen Größe und Festigkeit des Bösen aus. Hamlet ist zwar in sich unentschieden, doch nicht zweifelhaft, was, sondern nur wie er es vollbringen soll. Jetzt jedoch machen sie auch Shakespeares Charaktere gespenstig und meinen, daß die Nichtigkeit und Halbheit im Schwanken und Übergehen, daß diese Quatschlichkeit eben für sich interessieren müsse. Das Ideale aber besteht darin, daß die Idee wirklich ist, und zu dieser Wirklichkeit gehört der Mensch als Subjekt und dadurch als in sich festes Eins.

Dies mag in betreff auf die charaktervolle Individualität in der Kunst an dieser Stelle genug sein. Die Hauptsache ist ein in sich bestimmtes wesentliches Pathos in einer reichen, vollen Brust, deren innere individuelle Welt das Pathos in der Weise durchdringt, daß diese Durchdringung und nicht nur das Pathos als solches zur Darstellung kommt. Ebensosehr aber muß sich das Pathos nicht in der Brust des Menschen in sich selber zerstören, um sich dadurch als ein selbst Unwesentliches und Nichtiges aufzuzeigen.

 


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