X.6. Fortsetzung der ältesten Schrifttradition über den Anfang der Menschengeschichte

 

 Abstraktionen aber geben sowenig als das Gemälde der Dichter eine wahre Urgeschichte der Menschheit.

 Wo lag nun aber der Garten, in den der Schöpfer sein sanftes wehrloses Geschöpf setzte? Da diese Sage aus dem westlichen Asien ist, so setzt sie ihn ostwärts »höher hinauf gen Morgen, auf eine Erdhöhe, aus der ein Strom brach, der sich von da aus in vier große Hauptströme teilte«173 Unparteiischer kann keine Tradition erzählen; denn da jede alte Nation sich so gern für die erstgeborne und ihr Land für den Geburtsort der Menschheit hielt, so rückt diese hingegen das Urland weit hinauf an den höchsten Rücken der bewohnten Erde. Und wo ist diese Höhe der Erde? Wo entspringen die genannten vier Ströme aus einem Quell oder Strom, wie die Urschrift deutlich sagt? In unserer Erdbeschreibung nirgend, und es ist vergeblich, daß man die Namen der Flüsse tausendfach martere, da ein unparteiischer Blick auf die Weltkarte uns lehrt, daß nirgend auf Erden der Euphrat mit drei andern Strömen aus einem Quell oder Strom entspringe. Erinnern wir uns aber an die Traditionen aller höhern asiatischen Völker, so treffen wir dies Paradies der höchsten Erdhöhe mit seinem lebendigen Urquell, mit seinen die Welt befruchtenden Strömen in ihnen allen an. Sineser und Tibetaner, Indier und Perser reden von diesem Urberge der Schöpfung, um den die Länder, Meere und Inseln gelagert sind und von dessen Himmelhöhe der Erde ihre Ströme geschenkt wurden. Ohne Physik ist diese Sage keineswegs; denn ohne Berge konnte unsere Erde kein lebendiges Wasser haben, und daß alle Ströme Asiens von dieser Erdhöhe fließen, zeigt die Karte. Auch geht die Sage, die wir erklären, alles Fabelhafte der paradiesischen Ströme vorbei und nennt vier der weltbekanntesten, die von den Gebirgen Asiens fließen. Freilich fließen sie nicht aus einem Strom; dem späten Sammler dieser Traditionen indes mußten sie genug sein, den Ursitz der Menschen in einer ihm fernen Ostwelt zu bezeichnen.

 Und da ist wohl kein Zweifel, daß dieser Ursitz ihm eine Gegend zwischen den indischen Bergen sein sollte. Das gold- und edelsteinreiche Land, das er nennt, ist schwerlich ein anderes als Indien, das von alters her dieser Schätze wegen bekannt war Der Fluß, der es umströmt, ist der sich krümmende, heilige Ganges174; das ganze Indien erkennt ihn für den Strom des Paradieses. Daß Gihon der Oxus sei, ist unleugbar: die Araber nennen ihn noch also, und Spuren des Landes, das er umfließen soll, sind uns noch in mehreren benachbarten indischen Namen übrig175.

Die beiden letzten Ströme endlich, der Tigris und Euphrat, fließen freilich sehr weit westwärts; da aber der Sammler dieser Traditionen am westlichen Ende Asiens lebte, so verloren sich ihm notwendig diese Gegenden schon in die weite Ferne, und es ist möglich, daß der dritte Strom, den er nennt, gar einen östlichern Tigris, den Indus, bedeuten sollte176. Es war nämlich die Gewohnheit aller sich verpflanzenden, alten Völker, die Sagen vom Berge der Urwelt, den Bergen und Strömen ihres neuen Landes zuzueignen und solche durch eine Lokalmythologie zu nationalisieren, wie von den medischen Gebirgen an bis zum Olympus und Ida gezeigt werden könnte. Nach seiner Lage also konnte der Sammler dieser Traditionen nicht anders als den weitsten Strich bezeichnen, den ihm die Sage darbot. Der Indier am Paropamisus, der Perser am Imaus, der Iberier am Kaukasus war darunter begriffen, und jeder war im Besitz, sein Paradies an den Teil der Bergstrecke zu legen, den ihm seine Tradition wies. Unsere Sage indes winkt eigentlich auf die älteste der Traditionen; denn sie setzt ihr Paradies über Indien und gibt die andern Strecken nur zur Zugabe. Wie nun? Wenn ein glückliches Tal wie Kaschmire, beinah im Mittelpunkt dieser Ströme gelegen, ringsum von Bergen ummauert, sowohl wegen seiner gesunden erquickenden Wasser als wegen seiner reichen Fruchtbarkeit und Freiheit von wilden Tieren berühmt, ja noch bis jetzt wegen seines schönen Menschenstammes als das Paradies des Paradieses gepriesen, wenn ein solches der Ursitz unseres Geschlechts gewesen wäre? Doch der Verfolg wird zeigen, daß alle Nachspähungen dieser Art auf unserer jetzigen Erde vergeblich sind; wir bemerken also die Gegend so unbestimmt, wie sie die Tradition bezeichnet, und folgen dem Faden ihrer Erzählung weiter.

 Von allen Wunderdingen und Abenteuergestalten, womit die Sage des gesamten Asiens ihr Paradies der Urwelt reich besetzte, hat diese Tradition nichts als zwei Wunderbäume, eine sprechende Schlange und einen Cherub; die unzählbare Menge der andern sondert der Philosoph ab, und auch jene kleidet er in eine bedeutungsvolle Erzählung. Ein einziger verbotener Baum ist im Paradiese, und dieser Baum trägt in der Überredung der Schlange die Frucht der Götterweisheit, nach der dem Menschen gelüstet. Konnte er nach etwas Höherem gelüsten? Konnte er auch in seinem Fall mehr geadelt werden? Man vergleiche, auch nur als Allegorie betrachtet, die Erzählung mit den Sagen anderer Nationen; sie ist die feinste und schönste, ein symbolisches Bild von dem, was unserm Geschlecht von jeher alles Wohl und Weh brachte. Unser zweideutiges Streben nach Erkenntnissen, die uns nicht ziemen, der lüsterne Gebrauch und Mißbrauch unserer Freiheit, die unruhige Erweiterung und Übertretung der Schranken, die einem so schwachen Geschöpf, das sich selbst zu bestimmen erst lernen soll, durch moralische Gebote not wendig gesetzt werden mußten: dies ist das feurige Rad, unter dem wir ächzen und das jetzt doch beinah den Zirkel unseres Lebens ausmacht. Der alte Philosoph der Menschengeschichte wußte dies, wie wir's wissen, und zeigt uns den Knoten davon in einer Kindergeschichte, die fast alle Enden der Menschheit zusammenknüpft. Auch der Indier erzählt von Riesen, die nach der Speise der Unsterblichkeit gruben; auch der Tibetaner spricht von seinen durch eine Missetat herabgesunkenen Laben; nichts aber, dünkt mich, reicht an die reine Tiefe, an die kindliche Einfalt dieser Sage, die nur soviel Wunderbares behält, als zur Bezeichnung ihrer Zeit und Gegend gehört. Alle Drachen und Wundergestalten des über die asiatischen Gebirge sich erstreckenden uralten Feenlandes, der Simurgh und Soham, die Lahen, Dewetas, Dschins, Divs und Peris, eine in tausend Erzählungen von Dschinnistan, Righiel, Meru, Albordj u. f. weit verbreitete Mythologie dieses Weltteils, alle diese Abenteuer verschwinden in der ältesten Tradition der Schriftsprache, und nur der Cherub hält Wache an den Pforten des Paradieses.

 Dagegen erzählt diese lehrende Geschichte, daß die erstgeschaffenen Menschen mit den unterweisenden Elohim im Umgange gewesen, daß sie unter Anleitung derselben durch Kenntnis der Tiere sich Sprache und herrschende Vernunft erworben, daß, da der Mensch ihnen auch auf eine verbotene Art in Erkenntnis des Bösen gleich werden wollen, er diese mit seinem Schaden erlangt und von nun an einen andern Ort eingenommen, eine neue künstlichere Lebensart angefangen habe, lauter Züge der Tradition, die hinter dem Schleier einer Fabelerzählung mehr menschliche Wahrheit verbergen als große Lehrgebäude vom Naturzustande der Autochthonen. Sind, wie wir gesehen haben, die Vorzüge des Menschengeschlechts ihm nur als Fähigkeit angeboren, eigentlich aber durch Erziehung, Sprache, Tradition und Kunst erworben und herabgeerbt worden, so gehn die Fäden dieser ihm angebildeten Humanität aus allen Nationen und Weltenden nicht nur in einen Ursprung zusammen, sondern wenn das Menschengeschlecht, was es ist, werden sollte, mußten sie sich gleich vom Anfange an künstlich knüpfen. Sowenig ein Kind jahrelang hingeworfen und sich selbst überlassen sein kann, ohne daß es untergehe oder entarte, sowenig konnte das menschliche Geschlecht in seinem ersten keimenden Sproß sich selbst überlassen werden. Menschen, die einmal gewohnt waren, wie Orang-Utangs zu leben, werden nie durch sich selbst gegen sich selbst arbeiten und aus einer sprachlosen, verhärteten Tierheit zur Menschheit übergehen lernen. Wollte die Gottheit also, daß der Mensch Vernunft und Vorsicht übte, so mußte sie sich seiner auch mit Vernunft und Vorsicht annehmen. Erziehung, Kunst, Kultur war ihm vom ersten Augenblick seines Daseins an unentbehrlich; und so ist uns der spezifische Charakter der Menschheit selbst für die innere Wahrheit dieser ältesten Philosophie unserer Geschichte Bürge.177

 


 © textlog.de 2004 • 15.10.2024 11:42:13 •
Seite zuletzt aktualisiert: 26.10.2004 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright