VII.4. Die genetische Kraft ist die Mutter aller Bildungen auf der Erde, der das Klima feindlich oder freundlich nur zuwirkt

 

Gefällt es meinen Lesern, auf diesem Wege fortzugehen, so lasst uns ihn noch einige Schritte verfolgen.

1. Jedem Bemerkenden muß es aufgefallen sein, daß in den unzählbar-verschiednen Gestalten der Menschen gewisse Formen und Verhältnisse nicht nur wiederkommen, sondern auch ausschließend zueinander gehören. Bei Künstlern ist dies eine ausgemachte Sache, und in den Statuen der Alten sieht man, daß sie diese Proportion oder Symmetrie, wie sie es nannten, nicht etwa nur in die Länge und Breite der Glieder, sondern auch in die harmonische Bildung derselben zur Seele des Ganzen setzten. Die Charaktere ihrer Götter und Göttinnen, ihrer Jünglinge und Helden waren in ihrer ganzen Haltung so bestimmt, daß man sie zum Teil schon aus einzelnen Gliedern kennt und sich keinem Gebilde ein Arm, eine Brust, eine Schulter geben läßt, die für ein anderes gehört. Der Genius eines einzeln-lebendigen Wesens lebt in jeder dieser Gestalten, die er wie eine Hülle nur durchhaucht und sich im kleinsten Maß der Stellung und Bewegung, ähnlich dem Ganzen, charakterisiert. Unter den Neuern hat der Polyklet unseres Vaterlandes, Albrecht Dürer130), das Maß verschiedner Proportionen des menschlichen Körpers sorgfältig untersucht, und jedem Auge wird dabei offenbar, daß die Bildung aller Teile sich mit den Verhältnissen ändre. Wie nun, wenn wir Dürers Genauigkeit mit dem Seelengefühl der Alten verbänden und die Verschiedenheit menschlicher Hauptformen und Charaktere in ihrem zusammenstimmenden Gebilde studierten? Mich dünkt, die Physiognomik träte damit auf den alten natürlichen Weg, auf den sie ihr Name weist, nach welchem sie weder eine Etho- noch Technognomik, sondern die Auslegerin der lebendigen Natur eines Menschen, gleichsam die Dolmetscherin seines sichtbar gewordenen Genius sein soll. Da sie in diesen Schranken der Analogie des Ganzen, das auch im Antlitz das sprechendste ist, stets treu bleibt, so muß die Pathognomik ihre Schwester, die Physiologie und Semiotik ihre Mithelferin und Freundin werden; denn die Gestalt des Menschen ist doch nur eine Hülle des innern Triebwerks, ein zusammenstimmendes Ganze, wo jeder Buchstab zwar zum Wort gehört, aber nur das ganze Wort einen Sinn gibt. Im gemeinen Leben brauchen und üben wir die Physiognomik also: Der geübte Arzt sieht, welchen Krankheiten der Mensch seinem Bau und Gebilde nach unterworfen sein könne, und das physiognomische Auge, selbst der Kinder, bemerkt die natürliche Art ( physis) des Menschen in seinem Gebilde, d. i. die Gestalt, in der sich sein Genius offenbart.

Ferner. Sollten sich nicht diese Formen, diese Harmonien zusammentreffender Teile bemerken und als Buchstaben gleichsam in ein Alphabet bringen lassen? Vollständig werden diese Buchstaben nie werden, denn das ist auch kein Alphabet irgendeiner Sprache; zur Charakteristik der menschlichen Natur aber in ihren Hauptgestalten würde durch ein sorgsames Studium dieser lebendigen Säulenordnungen unseres Geschlechts gewiß ein weites Feld geöffnet. Schränkte man sich dabei nicht auf Europa ein und nähme noch weniger unser gewohntes Ideal zum Muster aller Gesundheit und Schönheit, sondern verfolgte die lebendige Natur überall auf der Erde, in welchen Harmonien zusammenstimmender Teile sie sich hie und da mannigfaltig und immer ganz zeige: ohne Zweifel würden zahlreiche Entdeckungen über den Concentus und die Melodie lebendiger Kräfte im Bau des Menschen der Lohn dieser Bemerkungen werden. Ja vielleicht würde uns dies Studium des natürlichen Consensus der Formen im menschlichen Körper weiter führen als die so oft und fast immer mit Undank bearbeitete Lehre der Komplexionen und Temperamente. Die scharfsinnigsten Beobachter kamen in dieser nicht weit, weil zu dem Mannigfaltigen, das bezeichnet werden sollte, ihnen ein bestimmtes Alphabet der Bezeichnung fehlte.131)

2. So wie nun bei einer solchen bildlichen Geschichte der Formung und Verartung des Menschengeschlechts die lebendige Physiologie allenthalben die Fackel vortragen müßte, so würde in ihr auch Schritt vor Schritt die Weisheit der Natur sichtbar, die nicht anders als nach einem Gesetz der tausendfach erstattenden Güte Formen bildet und abändert. Warum z. B. sonderte die schaffende Mutter Gattungen ab? Zu keinem andern Zweck, als daß sie den Typus ihrer Bildung desto vollkommener machen und erhalten könnte. Wir wissen nicht, wie manche unserer jetzigen Tiergattungen in einem frühern Zustande der Erde näher aneinandergegangen sein mögen; aber das sehen wir, ihre Grenzen sind jetzt genetisch geschieden. Im wilden Zustande paaret sich kein Tier mit einer fremden Gattung, und wenn die zwingende Kunst der Menschen oder der üppige Müßiggang, an dem die gemästeten Tiere teilnehmen, auch ihren sonst sichern Trieb verwildern, so läßt doch in ihren unwandelbaren Gesetzen die Natur von der üppigen Kunst sich nicht überwinden. Entweder ist die Vermischung ohne Frucht, oder die erzwungene Bastardart pflanzt sich nur unter den nächsten Gattungen weiter. Ja bei diesen Bastardarten selbst sehen wir die Abweichung nirgend als an den äußersten Enden des Reichs der Bildung, genau wie wir sie bei der Verartung des Menschengeschlechts beschrieben haben; hätte der innere, wesentliche Typus der Bildung Mißgestalt bekommen müssen, so wäre kein lebendiges Geschöpf subsistent worden. Weder ein Centaur also noch ein Satyr, weder die Scylla noch die Meduse kann nach den innern Gesetzen der schaffenden Natur und des genetischen wesentlichen Typus jeder Gattung sich er zeugen.

3. Das feinste Mittel endlich, dadurch die Natur Vielartigkeit und Bestandheit der Formen in ihren Gattungen verband, ist die Schöpfung und Paarung zweier Geschlechter. Wie wunderbar fein und geistig mischen sich die Züge beider Eltern in dem Angesicht und Bau ihrer Kinder! als ob nach verschiedenen Verhältnissen ihre Seele sich in sie gegossen und die tausendfältigen Naturkräfte der Organisation sich unter dieselben verteilt hätten. Daß Krankheiten und Züge der Bildung, daß sogar Neigungen und Dispositionen sich forterben, ist weltbekannt; ja oft kommen wunderbarerweise die Gestalten lange verstorbener Vorfahren aus dem Strom der Generation wieder. Ebenso unleugbar, obgleich schwer zu erklären, ist der Einfluß mütterlicher Gemüts- und Leibeszustände auf den Ungebornen, dessen Wirkung manches traurige Beispiel lebenslang mit sich trägt. - Zwei Ströme des Lebens hat also die Natur zusammengeleitet, um das werdende Geschöpf mit einer ganzen Naturkraft auszustatten, die nach den Zügen beider Eltern jetzt in ihr selbst lebe. Manches versunkne Geschlecht ist durch eine gesunde und fröhliche Mutter wieder emporgehoben; mancher entkräftete Jüngling mußte im Arm seines Weibes erst selbst zum leben den Naturgeschöpf erweckt werden. Auch in der genialischen Bildung der Menschheit also ist Liebe die mächtigste der Göttinnen; sie veredelt Geschlechter und hebt die gesunknen wieder empor: eine Fackel der Gottheit, durch deren Funken das Licht des menschlichen Lebens, hier trüber, dort heller, glänzt. Nichts widerstrebt hingegen dem bildenden Genius der Naturen mehr als jener kalte Haß oder jene widrige Konvenienz, die ärger als Haß ist. Sie zwingt Menschen zusammen, die nicht füreinander gehören, und verewigt elende, mit sich selbst disharmonische Geschöpfe. Kein Tier versank je so weit, als in dieser Entartung der Mensch versinkt.

 


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