II.2. Das Pflanzenreich unserer Erde in Beziehung auf die Menschengeschichte

 

Das Gewächsreich ist eine höhere Art der Organisation als alle Gebilde der Erde und hat einen so weiten Umfang, daß es sich sowohl in diesen verliert, als in mancherlei Sprossen und Ähnlichkeiten dem Tierreich nähert. Die Pflanze hat eine Art Leben und Lebensalter, sie hat Geschlechter und Befruchtung, Geburt und Tod. Die Oberfläche der Erde war eher für sie als für Tiere und Menschen da; überall drängt sie sich diesen beiden vor und hängt sich in Grasarten, Schimmel und Moosen schon an jene kahlen Felsen an, die noch keinem Fuß eines Lebendigen Wohnung gewähren. Wo nur ein Körnchen lockere Erde ihren Samen aufnehmen kann und ein Blick der Sonne ihn erwärmt, geht sie auf und stirbt in einem fruchtbaren Tode, indem ihr Staub andern Gewächsen zur bessern Mutterhülle dienet. So werden Felsen begraset und beblümt, so werden Moräste mit der Zeit zu einer Kräuter- und Blumenwüste. Die verweste wilde Pflanzenschöpfung ist das immer fortwirkende Treibhaus der Natur zur Organisation der Geschöpfe und zur weitern Kultur der Erde.

Es fällt in die Augen, daß das menschliche Leben, sofern es Vegetation ist, auch das Schicksal der Pflanzen habe. Wie sie wird Mensch und Tier aus einem Samen geboren, der auch als Keim eines künftigen Baums eine Mutterhülle fodert. Sein erstes Gebilde entwickelt sich pflanzenartig im Mutterleibe; ja auch außer demselben, ist unser Fiberngebäude in seinen ersten Sprossen und Kräften nicht fast der Sensitiva ähnlich? Unsere Lebensalter sind die Lebensalter der Pflanze: wir gehen auf, wachsen, blühen, blühen ab und sterben. Ohn unsern Willen werden wir hervorgerufen, und niemand wird gefragt, welches Geschlechts er sein, von welchen Eltern er entsprießen, auf welchem Boden er dürftig oder üppig fortkommen, durch welchen Zufall endlich von innen oder von außen er untergehen wolle. In alle diesem muß der Mensch höhern Gesetzen folgen, über die er sowenig als die Pflanze Aufschluß erhält, ja denen er beinah wider Willen mit seinen stärksten Trieben dienet. Solange der Mensch wächst und der Saft in ihm grünet, wie weit und fröhlich dünkt ihm die Welt! Er streckt seine Äste umher und glaubt zum Himmel zu wachsen. So lockt die Natur ihn ins Leben hinein, bis er sich mit raschen Kräften, mit unermüdeter Tätigkeit alle die Fertigkeiten erwarb, die sie auf dem Felde oder Gartenbeet, auf den sie ihn gesetzt hat, diesmal an ihm ausbilden wollte. Nachdem er ihre Zwecke erreicht hat, verläßt sie ihn allmählich. In der Blütenzeit des Frühlings und unserer Jugend, mit welchen Reichtümern ist allenthalben die Natur beladen! Man glaubt, sie wolle mit dieser Blumenwelt eine neue Schöpfung besamen. Einige Monate nachher, wie ist alles so anders! Die meisten Blüten sind abgefallen; wenige dürre Früchte gedeihen. Mit Mühe und Arbeit des Baumes reifen sie, und sogleich gehen die Blätter ans Verwelken. Der Baum schüttet sein mattes Haar den geliebten Kindern, die ihn verlassen haben, nach; entblättert steht er da; der Sturm raubt ihm seine dürren Äste, bis er endlich ganz zu Boden sinkt und sich das wenige Brennbare in ihm zur Seele der Natur auflöst. Ist's mit dem Menschen, als Pflanze betrachtet, anders? Welche Unermeßlichkeit von Hoffnungen, Aussichten, Wirkungstrieben füllt dunkel oder lebhaft seine jugendliche Seele! Alles traut er sich zu; und eben weil er's sich zutraut, gelingt's ihm; denn das Glück ist die Braut der Jugend. Wenige Jahre weiter, und es verändert sich alles um ihn, bloß weil er sich verändert. Das wenigste hat er ausgerichtet, was er ausrichten wollte, und glücklich, wenn er es nicht mehr und jetzt zu unrechter Zeit ausrichten will, sondern sich friedlich selbst verlebt. Im Auge eines höhern Wesens mögen unsere Wirkungen auf der Erde so wichtig, wenigstens gewiß so bestimmt und umschrieben sein als die Taten und Unternehmungen eines Baums. Er entwickelt, was er entwickeln kann, und macht sich, dessen er habhaft werden mag, Meister. Er treibt Sprossen und Keime, gebiert Früchte und säet junge Bäume; niemals aber kommt er von der Stelle, auf die ihn die Natur gestellt hat, und er kann sich keine einzige der Kräfte, die nicht in ihn gelegt sind, nehmen.

Insonderheit, dünkt mich, demütigt es den Menschen, daß er mit den saßen Trieben, die er Liebe nennt und in die er soviel Willkür setzt, beinah ebenso blind wie die Pflanze den Gesetzen der Natur dienet. Auch die Distel, sagt man, ist schön, wenn sie blüht; und die Blüte, wissen wir, ist bei den Pflanzen die Zeit der Liebe. Der Kelch ist das Bett, die Krone sein Vorhang, die andern Teile der Blume sind Werkzeuge der Fortpflanzung, die die Natur bei diesen unschuldigen Geschöpfen offen dargelegt und mit aller Pracht geschmückt hat. Den Blumenkelch der Liebe machte sie zu einem Salomonischen Brautbett, zu einem Kelch der Anmut auch für andere Geschöpfe. Warum tat sie dies alles und knüpfte auch bei Menschen ins Band der Liebe die schönsten Reize, die sich in ihrem Gürtel der Schönheit fanden? Ihr großer Zweck sollte erreicht werden, nicht der kleine Zweck des sinnlichen Geschöpfes allein, das sie so schön ausschmückte: dieser Zweck ist Fortpflanzung, Erhaltung der Geschlechter. Die Natur braucht Keime, sie braucht unendlich viel Keime, weil sie nach ihrem großen Gange tausend Zwecke auf einmal befördert. Sie mußte also auch auf Verlust rechnen, weil alles zusammengedrängt ist und nichts eine Stelle findet, sich ganz auszuwickeln. Aber damit ihr bei dieser scheinbaren Verschwendung dennoch das Wesentliche und die erste Frische der Lebenskraft nimmer fehlte, mit der sie allen Fällen und Unfällen im Lauf so zusammengedrängter Wesen vorkommen mußte, machte sie die Zeit der Liebe zur Zeit der Jugend und zündete ihre Flamme mit dem feinsten und wirksamsten Feuer an, das sie zwischen Himmel und Erde finden konnte. Unbekannte Triebe erwachen, von denen die Kindheit nichts wußte. Das Auge des Jünglings belebt sich, seine Stimme sinkt, die Wange des Mädchens färbt sich; zwei Geschöpfe verlangen nach einander und wissen nicht, was sie verlangen; sie schmachten nach Einigung, die ihnen doch die zertrennende Natur versagt hat, und schwimmen in einem Meer der Täuschung. Süßgetäuschte Geschöpfe, genießet eurer Zeit, wisset aber, daß ihr damit nicht eure kleine Träume, sondern, angenehm gezwungen, die größte Aussicht der Natur befördert. Im ersten Paar einer Gattung wollte sie sie alle, Geschlechter auf Geschlechter, pflanzen; sie wählte also fortsprießende Keime aus den frischesten Augenblicken des Lebens, des Wohlgefallens aneinander, und indem sie einem lebendigen Wesen etwas von seinem Dasein raubt, wollte sie es ihm wenigstens auf die sanfteste Art rauben. Sobald sie das Geschlecht gesichert hat, läßt sie allmählich das Individuum sinken. Kaum ist die Zeit der Begattung vorüber, so verliert der Hirsch sein prächtiges Geweih, die Vögel ihren Gesang und viel von ihrer Schönheit, die Fische ihren Wohlgeschmack und die Pflanzen ihre beste Farbe. Dem Schmetterlinge entfallen die Flügel, und der Atem geht ihm aus; ungeschwächt und allein kann er ein halbes Jahr leben. Solange die junge Pflanze keine Blume trägt, widersteht sie der Kälte des Winters, und die zu frühe tragen, verderben zuerst. Die Musa hat oft hundert Jahre erlebt; sobald sie aber einmal die Blüte entfaltet hat, so wird keine Erfahrung, keine Kunst hindern, daß nicht der prächtige Stamm im folgenden Jahr den Untergang leide. Die Schirmpalme wächst 35 Jahr zu einer Höhe von 70 Schuhen, hierauf in 4 Monaten noch 30 Schuh; nun blüht sie, bringt Früchte und stirbt in demselben Jahr. Das ist der Gang der Natur bei Entwicklung der Wesen aus einander; der Strom geht fort, indes sich eine Welle in der andern verliert.

Bei der Verbreitung und Ausartung der Pflanzen ist eine Ähnlichkeit kenntlich, die sich auch auf die Geschöpfe Über ihnen anwenden läßt und zu Aussichten und Gesetzen der Natur vorbereitet. Jede Pflanze fodert ihr Klima, zu dem nicht die Beschaffenheit der Erde und des Bodens allein, sondern auch die Höhe des Erdstrichs, die Eigenheit der Luft, des Wassers, der Wärme gehört. Unter der Erde lag alles noch durcheinander, und obwohl auch hier jede Stein-, Kristall- und Metallart ihre Beschaffenheit von dem Lande nimmt, in dem sie wuchs, und hiernach die eigensten Verschiedenheiten giebt, so ist man doch in diesem Reich des Pluto noch lange nicht zu der allgemeinen geographischen Übersicht und zu den ordnenden Grundsätzen gekommen als im schönen Reich der Flora. Die botanische Philosophie7), die Pflanzen nach der Höhe und Beschaffenheit des Bodens, der Luft, des Wassers, der Wärme ordnet, ist also eine augenscheinliche Leiterin zu einer ähnlichen Philosophie in Ordnung der Tiere und Menschen.

 


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