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III. [Die Objektivität der Wahrheit wie die des Wertes als Relation subjektiver Elemente]

 

Es verwirklicht sich also das Wahrheit-bedeutende Verhältnis der Vorstellungen entweder als ein Aufbau ins Unendliche, weil wir selbst bei prinzipiell zugegebener Fundamentierung der Erkenntnis auf nicht mehr relative Wahrheiten nie wissen können, ob wir denn wirklich an dieser sachlich letzten Instanz angelangt sind, von jeder erreichten also wieder auf den Weg zu einer noch allgemeineren und tieferen gewiesen werden; oder die Wahrheit besteht in einem Gegenseitigkeitsverhältnis innerhalb eben desselben Vorstellungskomplexes, und ihre Beweisbarkeit ist eine wechselseitige. Es sind aber diese beiden Denkbewegungen durch eine eigentümliche Funktionsteilung verbunden. Es scheint unvermeidlich, unser geistiges Dasein unter zwei, einander ergänzenden Kategorien zu betrachten: seinem Inhalte nach und dem Prozeß nach, der als Bewußtseinsereignis diesen Inhalt trägt oder verwirklicht. Die Struktur dieser Kategorien ist eine äußerst verschiedene. Den seelischen Prozeß müssen wir uns unter dem Bilde des kontinuierlichen Fließens vorstellen, er kennt keine starren Absätze, sondern ununterbrochen, wie in einem organischen Wachstum, fließt ein seelischer Zustand in den nächsten über. Unter völlig anderem Aspekt erscheinen die aus dem Prozeß abstrahierten, in ideeller Selbständigkeit bestehenden Inhalte: als ein Komplex, ein Stufenbau, ein System einzelner Begriffe oder Sätze, entschieden eines von dem anderen abgehoben; das logisch vermittelnde Glied zwischen je zweien zwar die Weiten des Abstandes, aber nicht seine Diskontinuität vermindernd - wie die Stufen einer Treppe sich scharf gegeneinander absetzen und damit doch das Mittel zu der kontinuierlichen Bewegung des Körpers über sie bieten. Wenn nun das Denken in seinen allgemeinsten Grundlagen und als Ganzes angesehen, sich im Kreis zu bewegen schien, weil es sich »durch eigenes Schweben halten« muß und kein pou stô hat, das ihm von außerhalb seiner her Halt gebe - so ist damit das Verhältnis zwischen den Inhalten des Denkens bezeichnet. Diese sind sich gegenseitig Hintergrund, so. daß jeder vom anderen seinen Sinn und Ton erhält, diese, indem sie Paare sich ausschließender Gegensätze bilden, fordern sich doch gegenseitig zur Herstellung des uns erreichbaren Weltbildes, von diesen wird jeder, durch die ganze Kette des Erkennbaren hindurch, zum Beweisgrund des anderen. Der Prozeß dagegen, in dem sich dieses Verhältnis nun psychologisch realisiert, folgt dem kontinuierlichen, geradlinigen Verlauf der Zeit, er geht seinem eigenen und inneren Sinne nach ins Unendliche, obgleich der Tod des Individuums seinen Weg verendlicht. In jene beiden Formen, die das Erkennen im einzelnen illusorisch, im ganzen aber gerade möglich machen, teilen sich diese beiden Kategorien, unter die unsere Reflexion es rückt: es verläuft nach dem Schema des regressus in infinitum, der unendlichen Kontinuität, in eine Grenzenlosigkeit, die doch in jedem gegebenen Augenblick Begrenztheit ist - während seine Inhalte die andere Unendlichkeit zeigen: die des Kreises, wo jeder Punkt Anfang und Ende ist und alle Teile sich wechselseitig bedingen.

Daß sich die Gegenseitigkeit des Bewahrheitens dem Blicke für gewöhnlich verbirgt, geschieht aus keinem anderen Grunde, als aus dem auch die Gegenseitigkeit der Schwere nicht unmittelbar bemerkt wird. Da nämlich in jedem gegebenen Augenblicke die ungeheure Mehrzahl unserer Vorstellungen unangezweifelt hingenommen wird und in ihm die Untersuchung auf Wahrsein nur eine einzelne zu treffen pflegt, so wird die Entscheidung über eben dieses nach der Harmonie oder dem Widerspruch mit dem bereits vorhandenen, als gesichert vorausgesetzten Gesamtkomplex unserer Vorstellungen getroffen - während ein anderes Mal irgendeine Vorstellung aus diesem Komplex fraglich werden und die jetzt zu prüfende der über sie entscheidenden Majorität angehören mag. Das ungeheure quantitative Mißverhältnis zwischen der aktuell gerade fraglichen und der aktuell als gesichert geltenden Masse der Vorstellungen verschleiert das Gegenseitigkeitsverhältnis hier ebenso, wie das entsprechende bewirkte, daß man so lange nur die Anziehungskraft der Erde für den Apfel, aber nicht die des Apfels für die Erde bemerkte. Und wie infolgedessen ein Körper die Schwere als eine selbständige Qualität seiner zu haben schien, weil nur die eine Seite des Verhältnisses konstatierbar war, so mag die Wahrheit als eine den Einzelvorstellungen an und für sich eigene Bestimmtheit gelten, weil die Gegenseitigkeit in der Bedingtheit der Elemente, in der die Wahrheit besteht, bei der verschwindenden Größe des einzelnen gegenüber der Masse der - im Augenblick nicht fraglichen - Vorstellungen überhaupt unmerkbar wird. - Die »Relativität der Wahrheit« in dem Sinne, daß all unser Wissen Stückwerk und keines unverbesserbar sei, wird oft mit einer Emphase verkündet, die mit ihrer allseitigen Unbestrittenheit meinem sonderbaren Mißverhältnis steht. Was wir hier unter jenem Begriffe verstehen, ist ersichtlich etwas ganz anderes: die Relativität ist nicht eine abschwächende Zusatzbestimmung zu einem im übrigen selbständigen Wahrheitsbegriff, sondern ist das Wesen der Wahrheit selbst, ist die Art, auf die Vorstellungen zu Wahrheiten werden, wie sie die Art ist, auf die Begehrungsobjekte zu Werten werden. Sie bedeutet nicht, wie in jener trivialen Verwendung, einen Abzug an der Wahrheit, von der man eigentlich ihrem Begriffe nach mehr erwarten könnte, sondern gerade umgekehrt die positive Erfüllung und Gültigkeit ihres Begriffes. Dort gilt die Wahrheit, trotzdem sie relativ ist, hier gerade, weil sie es ist.

 


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