Moral des »Immoralismus«
Als »Immoralismus« bezeichnet Nietzsche seine Lehre: die Verlegung aller Wertakzente des gesellschaftlichen Daseins auf die höchsten Individuen, unter völliger Gleichgültigkeit gegen die Vielen und ihre Zustände; die Predigt einer unbarmherzig auslesenden Züchtung, die für die Elenden und Zukurzgekommenen keinerlei Mitleid und Altruismus besitzt, weil alle Abwärtswendung des Interesses, alle scheinbare Sittlichkeit der Güte und Herablassung die Steigerung des Lebens zu noch unerreichten Höhen aufhält, eine Verkümmerung der Führenden auf das Niveau der Masse bedeutet: »Die Fernsten sind es, die eure Nächstenliebe bezahlen müssen.« Der Haß gegen die »Selbstlosigkeit«, die den Starken zum Diener des Schwachen, den Gesunden zum Diener des Kranken machen will - alles dies erscheint ihm selbst und viel zu vielen seiner Anhänger und Gegner als gegen die Moral gerichtet.
Denn Moral ist für ihn im wesentlichen eine Erfindung des Christentums und der altruistisch-sozialen Gesinnung, er aber lehre andere als moralische Werte.
Damit glaubt er sich in den äußersten Gegensatz zu Kant zu stellen, der umgekehrt gar keine anderen Werte als moralische anerkannt habe.
In Wirklichkeit liegt es ganz anders: Kant und Nietzsche sind beide Moralisten, d.h. Denker, weiche in dem durch den Willen bestimmbaren Tun und Sein des Menschen seinen Wert letzter Instanz erblicken.
Ihr Unterschied ist nur der, daß Kant ausschließlich die bestehende Moral zu formulieren sucht, während Nietzsche ihr, die zweifellos als »Moral« bestehen bleibt, einen neuen Inhalt geben möchte.
Kant ist der Theoretiker, der das Gegebene erkennen will, Nietzsche der Moralprediger, der dies Gegebene praktisch reformieren will.
Wer kann sich anmaßen, fragt Kant, eine neue Sittlichkeit zu erfinden, als ob die Welt vor ihm in dem, was Pflicht sei, in durchgängigem Irrtum gewesen wäre?
Nietzsche aber, auf der Entwicklungslehre fußend, scheut durchaus den Radikalismus des geschichtlichen Anderswerdens nicht, er sieht keinen Grund, weshalb die Welt nicht wirklich in dein, was die künftigen Entwicklungsstadien als Pflicht brauchen, im Irrtum sein könne.
Aber "moralisch", bleibt sein Interesse genau so, wie das Kants. Und er selbst dementiert seinen Immoralismus, wenn er über den Gegensatz zwischen der Herdentiermoral und seiner Lehre sagt: jene sei »nur eine Art von menschlicher Moral, neben der, nach der, viele andere, vor allem höhere Moralen möglich sind oder sein sollten«.
Hier weiß er, worüber er sich sonst, mindestens dem Ausdruck nach, täuscht, und damit seinen Nachtretern zum Verhängnis wird; daß an die Stelle der herrschenden Moral wohl eine andere, aber nicht etwas anderes als Moral treten kann.
Er verfällt einer Vorstellungsassoziation, die er doch eigentlich so gut durchschaut: weil die Sorge für die Interessen der Majorität, die Hingabe an die Mühseligen und Beladenen, der Verzicht auf die Durchsetzung des Ich solange als Moralität gegolten hat, ist solches Verhalten mit dem Begriff der Moral überhaupt verschmolzen, so daß die Absage an jene Ideale nichts geringeres als eine Absage an die Moral überhaupt zu sein scheint - eine psychologische Allzumenschlichkeit, vergleichbar der festgewachsenen Assoziation zwischen dem Vaterlande und seiner lange bestehenden Verfassung, infolge deren jede Opposition gegen diese Verfassung als gegen das Vaterland gerichtet gilt.
Dieser illegitimen Verbindung unterlag auch das Kantische Denken.
So allgemein und über die Zufälligkeit historischer Lagen erhaben sein Moralprinzip erscheint: daß die Eignung zum allgemeinen Gesetz über die sittliche Zulässigkeit der Handlung entscheide - so ist doch auch dies in Wirklichkeit aus der historischen Situation des 18.Jahrhunderts hervorgegangen, aus der Idee des »allgemeinen«, durch die Forderung der »Freiheit und Gleichheit« bestimmten Menschen.
Auch Kant hat die Moral einer besonderen Situation für die Moral überhaupt gehalten.
Nur daß diese methodische Gleichheit ihrer Ausgangspunkte weniger ins Auge fällt, weil Kant, der bloß Konstatierende und Formulierende, diese historische und ins Absolute übersteigerte Moral vorbehaltlos annimmt, während Nietzsche sie ebenso ablehnt.
Aber ein Immoralist, wie es die späteren griechischen Sophisten, die philosophierenden Abbés des 18.Jahrhunderts oder Max Stirner waren, ist er darum keineswegs.
Er ist es so wenig, daß er, um den moralischen Wert der Menschheit zu retten, alle bisherigen Inhalte der Moral preisgibt.
Daß hier in Gesinnung und Wertsetzung ein unversöhnlicher Gegensatz zwischen den beiden Denkern besteht, wird niemand wegreden wollen.
Etwas anderes aber als dieses unmittelbare Verhältnis zwischen ihnen ist jenes, das sie im Geiste eines Dritten und für die zusammenfassende Betrachtung der Gegenwart besitzen.
Untereinander würden sie sich bis auf den letzten Hauch bekämpfen; für uns aber scheint die Kantische Lösung des moralischen Problems mit der Nietzsche'schen keineswegs unverträglich.
Denn das Problem war für jeden ein andres, weil jeder ein andrer Typus Mensch war: der eine der Intellektualist, dem auch die praktischen Werte nur ein Gegenstand theoretischer Feststellung waren, der andre das leidenschaftlich-reformatorische Temperament, dem auch das theoretische Erkennen nur ein Mittel für praktische Werte war.
Der eine schilderte das Ideal, das galt, der andere das, das statt aller geltenden gelten sollte; kein Wunder, daß die Inhalte dieser Schilderungen sehr entgegengesetzt waren.
Aber nur für denjenigen, der in dem Inhalt des einen völlig befangen ist, verhindert dies ein Nebeneinanderbestehen, das sogleich zulässig wird, sobald die Verschiedenheit der Dimensionen klar wird, nach denen die Moral des einen und die des anderen hingeht.
Wie man nun die Nietzsche'sche Philosophie werten mag - ein Problem, zu dem hier durchaus keine Stellung genommen ist: es wird manche Geister ihm nähern können und manche - zu seinem Vorteil - von ihm entfernen, wenn die Paradoxität seiner Lehren schwindet, die sie als ein entstellender disharmonischer Oberton begleitet, und die er selbst freilich durch die weitausladenden Gesten, die oft krampfhaften Akzente seiner Ausdrucksweise herbeiruft.
Sie sind für die sensationsbegierige Masse unbedeutender, für wenige aber vielleicht bedeutender, wenn sie sogar an den exponiertesten Punkten ihrer, die ich hier behandelte, diesen Schein bis zu dem Grade verlieren, daß sie die Konfrontierung mit der kühlen Abgewogenheit und den ebenmässigen Proportionen des Kantischen Denkens ermöglichen.