XVIII.6. Allgemeine Betrachtung über die Einrichtung der deutschen Reiche in Europa

 

Wenn Einrichtungen der Gesellschaft das größeste Kunstwerk des menschlichen Geistes und Fleißes sind, indem sie jedesmal auf der ganzen Lage der Dinge nach Ort, Zeit und Umständen beruhen, mithin der Erfolg vieler Erfahrungen und einer steten Wachsamkeit sein müssen, so läßt sich mutmaßen, daß eine Einrichtung der Deutschen, wie sie am Schwarzen Meer oder in den nordischen Wäldern war, ganz andere Folgen haben mußte, wenn sie unter gebildete oder durch Üppigkeit und eine abergläubige Religion mißgebildete Völker rückte. Diese zu überwinden war leichter, als sie oder sich selbst in ihrer Mitte wohl zu regieren. Daher denn gar bald die gestifteten deutschen Reiche entweder untergingen oder in sich selbst dermaßen zerfielen, daß ihre lange folgende Geschichte nur das Flickwerk einer verfehlten Einrichtung blieb.

 1. Jede Eroberung der deutschen Völker ging auf ein Gesamteigentum aus. Die Nation stand für einen Mann; der Erwerb gehörte derselben durch das barbarische Recht des Krieges und sollte dermaßen unter sie verteilt werden, daß alles noch ein Gemeingut bliebe; wie war dies möglich? Hirtenvölker auf ihren Steppen, Jäger in ihren Wäldern, ein Kriegsheer bei seiner Beute, Fischer bei ihrem gemeinschaftlichen Zuge können unter sich teilen und ein Ganzes bleiben; bei einer erobernden Nation, die sich in einem weiten Gebiet niederlässet, wird dieses weit schwerer. Jeder Wehrsmann auf seinem neuerworbenen Gute wurde jetzt ein Landeigentümer; er blieb dem Staate zum Heerzuge und zu andern Pflichten verbunden; in kurzer Zeit aber erstirbt sein Gemeingeist, die Versammlungen der Nation werden von ihm nicht besucht; auch des Aufgebots zum Kriege, das ihm zur Last wurde, sucht er sich gegen Übernehmung anderer Pflichten zu entladen. So war's z.B. unter den Franken: das Märzfeld wurde von der freien Gemeine bald versäumt; mithin blieben die Entschlüsse desselben dem Könige und seinen Dienern anheimgestellt, und der Heerbann selbst konnte nur mit wachsamer Mühe im Gange erhalten werden. Notwendig also kamen die Freien mit der Zeit dadurch tief herunter, daß sie den allezeit fertigen Rittern ihre Wehrdienste mit guter Entschädigung auftrugen, und so verlor sich der Stamm der Nation, wie ein zerteilter, verbreiteter Strom, in kraftloser Trägheit. Ward nun in diesem Zeitraum der ersten Erschlaffung ein dermaßen errichtetes Reich mächtig angegriffen: was Wunder, daß es erlag? Was Wunder, daß auch ohne äußern Feind auf diesem trägen Wege die besten Rechte und Besitztümer der Freien in andere, sie vertretende Hände kamen? Die Verfassung des Ganzen war zum Kriege oder zu einer Lebensart eingerichtet, bei welcher alles in Bewegung bleiben sollte, nicht aber zu einem zerstreuten, fleißig-ruhigen Leben.

 2. Mit jedem erobernden Könige war ein Trupp Edeln ins Land gekommen, die als seine Gefährten und Treuen, als seine Knechte und Leute aus denen ihm zukommenden Ländereien beteilt wurden. Zuerst geschähe dies nur lebenslänglich; mit der Zeit wurden die ihnen zum Unterhalt angewiesenen Güter erblich: der Landesherr gab so lange, bis er nichts mehr zu geben hatte und selbst verarmte. Bei den meisten Verfassungen dieser Art haben also die Vasallen den Lehnsherren, die Knechte den Gebieter dergestalt ausgezehrt, daß, wenn der Staat lange dauerte, dem Könige selbst von seinen nutzbaren Gerechtigkeiten nichts übrigblieb und er zuletzt als der Ärmste des Landes dastand. Wenn nun, wie wir gesehen, dem Gange der Dinge nach bei langen kriegerischen Zeitläuften die Edeln notwendig auch den Stamm der Nation, die freie Gemeine, sofern diese sich nicht selbst zu Edeln erhob, allgemach zugrunde richten mußten, so sieht man, wie das löbliche, damals unentbehrliche Ritterhandwerk so hoch emporkommen konnte. Von kriegerischen Horden waren die Reiche erobert; wer sich am längsten in dieser Übung erhielt, gewann so lange, bis mit Faust und Schwert nichts zu gewinnen mehr da war. Zuletzt hatte der Landesherr nichts, weil er alles verliehen hatte; die freie Gemeine hatte nichts, weil die Freien entweder verarmt oder selbst Edle geworden und alles andere Knecht war.

 3. Da die Könige im Gesamteigentum ihres Volks umherziehen oder vielmehr allenthalben gegenwärtig sein sollten und dies nicht konnten, so wurden Statthalter, Herzoge und Grafen unentbehrlich. Und weil nach der deutschen Verfassung die gesetzgebende, gerichtliche und ausübende Macht noch nicht verteilt waren, so blieb es beinah unvermeidlich, daß nicht mit der Zeit unter schwachen Königen die Statthalter großer Städte oder entfernter Provinzen selbst Landesherren oder Satrapen wurden. Ihr Distrikt enthielt, wie ein Stück der gotischen Baukunst, alles im kleinen, was das Reich im großen hatte; und sobald sie sich nach Lage der Sache mit ihren Ständen einverstanden, war, obgleich noch abhängig vom Staat, das kleine Reich fertig. So zerfielen die Lombardei und das fränkische Reich, kaum wurden sie noch am seidnen Faden eines königlichen Namens zusammengehalten; so wäre es mit dem gotischen und dem wandalischen Reich worden, hätten sie länger gedauert. Um diese Bruchstücke, wo jeder Teil ein Ganzes sein wollte, wieder zusammenzubringen, haben alle Reiche deutscher Verfassung in Europa ein halbes Jahrtausend hin arbeiten müssen, und einigen derselben hat es noch nicht gelingen mögen, ihre eignen Glieder wiederzufinden. In der Verfassung selbst liegt der Same dieser Absondrung; sie ist ein Polyp, bei welchem in jedem abgesonderten Teile ein Ganzes lebt.

 


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