III. Das Basler Kulturideal


Die nächsten Belege für die außerordentliche Einwirkung besonders Wagners finden sich im ersten Band der »Nachgelassene Schriften«, Bd. IX der Gesamtausgabe. Zunächst S. 24: »Philosophia facta est quae philologia fuit«. Dann S. 100 als Untertitel zu einer geplanten Schrift »Die Tragödie und die Freigeister«: »Betrachtungen über die ethisch-politische Bedeutung des musikalischen Dramas«, und man hat den direkten Zusammenhang mit Wagners Schriften »Deutsche Kunst und deutsche Politik«, »Über Staat und Religion«. S. 232 findet sich die Notiz: »Für mich erläutert das leibhaftiggeschaute Phänomen Wagners zuerst negativ, daß wir die griechische Welt bis jetzt nicht verstanden haben und umgekehrt finden wir dort die einzigen Analogien zu unserem Wagnerphänomen.« S. 82 wieder erscheint »Deutschland als eigentlicher Orakelsitz der Kunst. Ziel: eine staatliche Kunstorganisation. Kunst als Erziehungsmittel.« Im allgemeinen gilt gewiß schon für die erste Basler Zeit Nietzsches die Bemerkung Karl Joels [»Nietzsche und Romantik«, Jena 1906, S. 298], daß Nietzsche zwischen dem wahrhaft erkannten älteren Altertum und unserer, höchsten Kunst und Philosophie (darunter verstand er damals immer nur Wagner und Schopenhauer) keinen Widerspruch findet. »Sie stützen und tragen sich. Hier liegen meine Hoffnungen.« Über seine Philologie schreibt Nietzsche damals an Rohde (ich zitiere die Stellen zum Überfluß gegen die Vaihingersche Behauptung, Nietzsche sei klassischer Philologe aus Überzeugung gewesen: »Die Philologenexistenz in irgendeiner künstlichen Bestrebung, aber tausend Meilen abseits vom Griechentum wird mir immer unmöglicher.« [Briefe II, S. 181 Ende Januar 1870]. Und bereits 15. 12. 1870 [Briefe II, S. 214 f.]: »Schleppen wir uns noch ein paar Jahre durch diese Universitätsexistenz! Nehmen wir sie wie ein lehrreiches Leidwesen, das man ernsthaft und mit Erstaunen zu ertragen hat. — Also wir werfen einmal dieses Joch ab. Das steht für mich ganz fest.« Wiegt in diesen Zitaten der Einfluß Wagners vor, so in den folgenden der Burckhardts [W. IX, S. 119]: »Ist das Ziel der hellenischen Kultur die Verherrlichung durch die Kunst, so muß von da aus das griechische Wesen begreiflich werden. Welches sind die Mittel, deren sich jener Kunstwille bedient?«, oder [W. IX, S. 126]: Ziel — »Das Schillersche bedeutend erhoben, Erziehung durch die Kunst, aus dem germanischen Wesen (Wagners' Ariertum) abgeleitet.« Nietzsche plant eine »Rede auf Beethoven« [W. IX, S. 426] und bezeichnet es als »Aufgabe, die zu ihm gehörige Kultur zu finden«. Sein Notizbuch zu »Die Tragödie und die Freigeister« begleitet ihn in den Krieg (den er als freiwilliger Krankenpfleger mitmacht), und Kultur, Kultur und nochmals Kultur ist der Gesichtspunkt, mit dem er den Verlauf dieses Krieges erst besorgt, dann ihm opferwillig, zuletzt ablehnend gegenübersteht. [Briefe II, S. 181, VI, S. 188, und VI, S. 196. Bei diesen privaten Äußerungen und Notizen bleibt es indessen nicht. Am 18. 1. 1870 hält er einen Vortrag »Das griechische Musikdrama« [W. IX, S. 33 ff.], am 1. 2. 1871 einen zweiten, »Sokrates und die Tragödie«, auf den Frau Cosima antwortet [Biogr. II, S. 21] »bei einzelnen Sätzen, wie daß der Verfall der griechischen Tragödie mit Sophokles, ja mit Aeschylus beginnt, und über die Form der Platonischen Gespräche mußte mir der Meister beweisen, wie recht Sie haben«, während Wagner selbst den Rat gibt: »diese sehr unglaublichen Ansichten nicht mehr in kurzen durch fatale Rücksichten auf leichten Effekt es absehenden Abhandlungen zu berühren, sondern — sich zu einer größeren umfassenderen Arbeit darüber« zu sammeln. [Biogr. II, S. 22.] Was die Tribschener überraschte, war neben der gewaltigen Kulturstellung, die Wagners Musikdrama zuerteilt war, in höchstem Grade auch die im Bunde mit Schopenhauer geschehene Apostrophierung der Sokrates und Plato als der Stammväter des Intellektualismus und eigentlichen Todfeinde und Widerstandswurzeln gegen die Tragödie. Eine dritte Abhandlung: »Über die dionysische Weltanschauung« [W IX, S. 85-99] war bereits zu Weihnacht 1870 nach Tribschen verschickt. Ein diese drei Schriften zusammenschließendes Buch »Sokrates und der Instinkt« (das heißt Sokrates wider den Instinkt) wird geplant. Und Ende 1871 erscheint das Erstlingsund Programmwerk »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«.

Die »Geburt der Tragödie« gehört zu denjenigen Büchern, deren Inhalt ebensowenig widerlegt wie bewiesen werden kann, deren Wert oder Unwert auch weder vom Beweis noch von der Widerlegung abhängt. Die »Geburt der Tragödie« ist ein Buch der Auffassung, ein Buch, das viel weniger Gelehrsamkeit gibt, als es solche macht. Es ist von anderer Seite schon darauf hingewiesen worden: Wenn etwas durch die »Geburt der Tragödie« bewiesen wurde, so war es das Eine, daß auch das Winckelmannsche Griechentum naiver Harmonie und Größe, das Goethesche der ruhigen Heiterkeit, oder das Schillersche: »Griechheit, was war sie? Verstand und Maß und Klarheit« eben nur Auffassungen waren, die doch aufs Bedeutendste eingewirkt hatten. Einem solchen Buch gegenüber müßte doch wohl das Bemühen vor allem darin bestehen, nach Möglichkeit seinen Ideenkreis abzustecken, um sich so der Art und Tragweite seiner unausbleiblichen autoritativen Wirkungen zu versichern.

Als die zwei entscheidenden Neuerungen des Buchs werden (von Nietzsche selbst, »Ecce homo«, die Geburt der Tragödie) bezeichnet: »einmal das Verständnis des dionysischen Phänomens bei den Griechen, — es gibt dessen erste Psychologie, es sieht in ihm die eine Wurzel der ganzen griechischen Kunst. — Das Andre ist das Verständnis des Sokratismus, Sokrates als Werkzeug der griechischen Auflösung, als typischer Dekadent zum ersten Male erkannt: Vernünftigkeit gegen Instinkt.«

Was versteht nun Nietzsche unter dem »dionysischen Problem«? Werke VIII, S. 170 bestimmt er es: »Ich war der Erste, der zum Verständnis des älteren, des noch reichen und überströmenden hellenischen Instinkts jenes wundervolle Phänomen ernst nahm, das den Namen des Dionysos trägt: es ist einzig erklärlich aus einem Zuviel an Kraft.« Sodann: Um welches ältere Griechentum handelt es sich? In einem Brief Rohdes an Nietzsche vom 21. 4. 1871 [Briefe II, S. 236] wird es beschrieben: »zwischen Homer und Aeschylus inmitten liegt eine Zeit tiefster mystischer Erregung und einer inneren Vertiefung, von der nur die falsche Klarheit alexandrischer Zeit gar so wenig übrig gelassen hat.« Und worin begründet Nietzsche das Dionysische? [W. IX, S. 173]: »Jene stille Einfalt und edle Würde, die Winckelmann begeisterte, bleibt etwas Unerklärliches, wenn man das in der Tiefe fortwirkende metaphysische Mysterienwesen außer Acht läßt. Hier hatte der Grieche eine unerschütterliche gläubige Sicherheit, während er mit seinen olympischen Göttern in freiester Weise bald spielend bald zweifelnd umging. Darum galt ihm auch die Entweihung der Mysterien als das eigentliche Kardinalverbrechen, das ihm selbst noch furchtbarer erschien als die Auflösung des Demos.« Er begründet es also in jenen Kulten des Wiedererstehens der Natur, der Geschlechtlichkeit, des bacchischen Rausches, Rasens und Sichselbstzerreißens, die in den eleusinischen Demeter-Kore-Jacchos-Weihen ihren Mittelpunkt hatten, ihren Ausgang von Asien herleiteten, von der phönizischen Feier des Todes und der Auferstehung des Adonis, vom ägyptischen Phallus- und Osirisdienst und ähnlichem. Es handelt sich also bei Nietzsches »dionysischem Problem« um das Zustandekommen der Kunst und zwar der eigentlichen Dionysoskunst: der Tragödie, es handelt sich um die Voraussetzung einer ästhetischen Volkskultur. Es handelt sich aber des weiteren nicht nur um ästhetische Kultur in ethnischem Umfang, es wird geradezu eine ästhetische Kosmodizee aufgestellt. (»Daß die Natur die Entstehung der Tragödie an jene zwei Grundtriebe des Apollinischen und des Dionysischen geknüpft hat, darf uns ebensosehr als ein Abgrund der Vernunft gelten als die Vorrichtung derselben Natur, die Propagation an die Duplizität der Geschlechter zu knüpfen.« [W. IX, S. 176] Ich glaube nun: Daß aus Dionysoschören die Tragödie entstanden sei, das hatte man immer gewußt. Das musikalische Element indessen als Ausfluß der zum Taumel gesteigerten Lebensgefühle in ethnischem, ja kosmischen Umfang als Genesiselement der Kunst und Tragödie befürwortet und dadurch einerseits eine rigoros ästhetische Weltinterpretation, andrerseits eine rigoros ästhetische Kulturperspektive für die Gegenwart anhand der Griechen gewonnen zu haben, das ist der Verdienst Nietzsches.

Als zweite Neuerung wurde von Nietzsche das Verständnis des Sokratismus als einer Dekadenzerscheinung beansprucht. Ich möchte auch hier wieder fragen: wie faßt vor allem Nietzsche selber die Dinge auf, wenn er von »Vernünftigkeit wider Instinkt« spricht und für den »Instinkt« gegen die »Vernünftigkeit« Stellung nimmt? Der Sokratismus erscheint als Instinktfeindlichkeit im Zusammenhang mit Nietzsches Parteinahme für das Dionysische; Instinkt und Dionysiertum werden identifiziert, der Sokratismus abgelehnt und bekämpft, weil das Dionysische nicht bestehen kann, wo dieser herrscht, weil das Sokratische vernichtet werden muß, wo das Dionysische herrschen soll. Wie Nietzsche unterm Einfluß Wagners und des antihegelianischen Schopenhauer dazu kam, gegen Sokrates Stellung zu nehmen, darauf habe ich bereits hingewiesen. Was er unter »Sokratismus« verstand, ist eine nur in Abstraktheit sich bewegende, nur Abstraktheit produzierende, rein intellektualistische Verstandeskultur; die gesamte Richtung zur Analyse, zum Wissen und Haben, zur logischen Behandlung der Naturprobleme. Er haßte darin einen vorlauten, oberflächlichen, ahnungslosen Optimismus den dunklen unberechenbaren explosiven Natur- und Kunstmächten gegenüber, wie er sie gerade in Wagner verkörpert fühlte. Einer solchen Verstandeskultur mochte es eines Tages ergehen, wie jenem Schillerschen Friedensvers »Du stehst mit deinem Palmenzweige, o Mensch, an des Jahrhunderts Neige«, der von der Revolution und Napoleon so gründlich widerlegt wurde. Nietzsche berauscht sich [W. I, S. 128. »Die Geburt der Tragödie«] am »Sieg über den im Wesen der Logik verborgen liegenden Optimismus, der wiederum der Untergrund unserer Kultur ist« und versteht »den philosophischen Pessimismus des 19. Jahrhunderts als ein Symptom einer höheren Kraft des Gedankens, einer siegreicheren Fülle des Lebens«, als diese in der »Philosophie Humes, Kants und Hegels zum Ausdruck gekommen war.« [W. VIII, S. 192.] Luft und Raum zu schaffen dem Dionysischen, weil der Sokratismus zur Verknöcherung, zum Ende, zur Dekadenz führt, das Dionysische aber zur Herrlichkeit, — das ist es, was nottut und worum es sich hier handelt. Insofern vergewissert sich Nietzsche seiner eigentlichen Gegner und findet: »Kampf gegen Instinkt: Anaxagoras, Sokrates, Plato.« (Anaxagoras hatte zuerst das Vernunftsprinzip in den Kosmos gebracht.) So weist er W. I, S. 73 darauf hin, daß niemals bis auf Euripides Dionysos aufgehört hat, der tragische Held zu sein«, und [W. I, S. 93]: »daß Sokrates als der erste und oberste Sophist, als der Spiegel und Inbegriff aller sophistischen Bestrebungen bei Aristophanes erscheine.« Nachgelassene Schriften [W. IX, S. 55] steht der Aphorismus: »Wer wird im Hinblick auf die sehr tief greifenden hier nur angerührten unkünstlerischen Wirkungen des Sokratismus nicht dem Aristophanes Recht geben, wenn er den Chor singen läßt:

 

»Heil, wer nicht bei Sokrates

Sitzen mag und reden mag

Nicht die Musenkunst verdammt

Und das Höchste der Tragödie

Nicht verächtlich übersieht.

Eitel Narrheit ist es doch,

Auf gespreizte hohle Reden

Und abstraktes Spintisieren

Einen müßigen Fleiß zu wenden.«

 

und [W. I, S. 125, »Die Geburt der Tragödie«] wird auch bereits das Fazit gezogen: »Unsere ganze moderne Welt ist in den Netzen der alexandrinischen Kultur befangen und kennt als Ideal den mit höchsten Erkenntniskräften ausgerüsteten, im Dienste der Wissenschaft arbeitenden theoretischen Menschen, dessen Urbild und Stammvater Sokrates ist.« Es ist eine seiner ersten großen kulturkritischen Konsequenzen. — Nachdem in der »Geburt der Tragödie« die Erscheinung, das Phänomen Wagner gewissermaßen in seinem ganzen ideellen Umfang monumentalisiert war, tritt Nietzsche nun auch praktisch dafür ein. Auf die »Geburt der Tragödie« folgen die vier »Unzeitgemäßen Betrachtungen«. Die Zweite davon (»Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«) entlockt Wagners Gattin das ebenso wahre wie schöne Wort [Biogr. II, S. 146]: »Wie der indische Königssohn von der Begegnung von Bettler, Greis und Leiche vom Wesen der Dinge unterrichtet wurde, und der Christ durch den Anblick des Heilands am Kreuz zum Heiligen wird, so ist Ihnen ein Gesamturteil über unsere heutige Kulturwelt durch das Mitleiden mit dem Genie ermöglicht worden.« Die Vierte »Unzeitgemäße«, »Richard Wagner in Bayreuth« ist eine direkte Agitationsschrift für Wagner. Auch sonst: Nietzsche will »den nächsten Winter herumziehen im deutschen Vaterlande, das heißt eingeladen von den Wagnervereinen der größeren Städte, um Vorträge über die Nibelungenfestspiele zu halten: es muß eben Jeder tun was seine Pflicht ist, und im Kollisionsfalle, was seine Pflicht mehr ist.« [Briefe II, S. 303].

Er ist Preisrichter für Wagner: »Der allgemeine deutsche Musikverein hat einen Preis von 300 Talern auf eine 5-Bogenschrift populärer Natur über Wagners Nibelungendichtung ausgesetzt; Professor Heyne, Professor Simrock und ich sind Richter, ersterer auf meinen Vorschlag.« [Briefe II, S. 392] Er träumt als »Zukunft von dem Bayreuther Sommer: Vereinigung aller wirklich lebendigen Menschen: Künstler bringen ihre Kunst heran, Schriftsteller ihre Werke zum Vortrage, Reformatoren ihre neuen Ideen. Ein allgemeines Bad der Seelen soll es sein: dort erwacht der neue Genius, dort entfaltet sich ein Reich der Güte.« [W. X, S. 469] Was er von Wagner erhofft, ist »die Erneuerung der Kunst von der einzigen noch vorhandenen Basis aus, vom Theater aus« [W. X, S. 427]. Was er beklagt, ist »eine Erziehung, bei der es nicht erreicht ist, Wagner zu verstehen, bei der Schopenhauer rauh und mißtönig klingt; diese Erziehung ist verfehlt« [W. X, S. 368]. Wie tief Wagners Ideal auf die nun folgenden eigentlichen und selbständigen Kulturspekulationen Nietzsches eingewirkt hat, geht aus einem Aphorismus zur Gesamtausgabe der »Unzeitgemäßen« hervor [W. X, S. 368]; wenn es dort heißt: »Die Entstehung zu schildern: meine Desperation wegen Bayreuth, ich sehe nichts, was ich nicht voll Schuld weiß, ich entdecke bei tieferem Nachdenken auf das fundamentale Problem aller Kultur gestoßen zu sein.«

Dieses »fundamentale Problem aller Kultur« ist von nun an Nietzsches Thema. Werke X, S. 169 bezeichnet er »das Nachahmen« als »das Mittel aller Kultur, dadurch wird allmählich der Instinkt erzeugt. Alles Vergleichen (Urdenken) ist ein Nachahmen«. Werke X, S. 119 fragt er: »Ist das Ziel der hellenischen Kultur die Verherrlichung durch die Kunst, so muß von da aus das griechische Wesen begreiflich werden. Welches sind die Mittel, deren sich jener Kunstwille bedient?

 

Arbeit und Sklaventum

Das Weib

Der politische Trieb

Die Natur

Mangel des Gelehrten.«

 

In welchem Grade die Höhe einer Kultur durch Unerschrockenheit, Breite und Tiefe der Naturerfassung bestimmt wird, darin hatte Nietzsche in die »Die Geburt der Tragödie« die volle Einsicht gegeben. Nun geht er mit Bewußtsein den »übertünchten Zügen des Grundtextes homo natura« nach. Der Entdecker des dionysischen Elements im Griechentum, der Freund Wagners und Feind des Sokratismus ruft aus: »Schenkt mir erst Leben, dann will ich euch eine Kultur daraus schaffen.« [W. I, S. 378]. Er findet: »Nein, das Ziel der Menschheit kann nicht am Ende liegen, sondern nur in ihren höchsten Exemplaren« [W. I, S. 364], denn er weiß, daß das Genie den Begriff des Lebens und der Natur am stärksten darstellt, er plant [W. IX, S. 290] einen »Dithyrambus auf die Kunst und den Künstler, weil sie den Menschen erst herausschaffen und alle seine Triebe in die Kultur übertragen.« Vom Standpunkt des Kulturschöpfers aus betrachtet er den überkommenen europäischen Naturbegriff, wie er sich an Shakespeare, Rousseau, Goethe gebildet hat; einerseits von seinem eigenen dionysischen Naturwissen belehrt, andererseits von seinem Begriff der griechischen Naturauffassung unterrichtet. Jetzt fragt er: [W. IX, S. 128] »Was ist über die Griechen zu lehren, wenn man von ihrer heiteren Welt ausgeht und sich den Ernst verhüllt? Die Angriffe auf das klassische Altertum sind so ganz berechtigt«, und das richtet sich gegen Goethens alles Zwiespältige, Schreckliche und Drohende ausschließendes, harmonisch spielendes Natur- und Kunstideal. »Wenn unsere Aufgabe wäre, über das Leben möglichst hinwegzugleiten, da gäbe es Rezepte, das Goethesche zumal« [W. X, S. 324]. Jetzt überlegt er [W. IX, S. 190] gegen »die Hingabe an die Natur, gegen das kata physin zên der Stoiker und des Rousseau«: »1.) Wer kennt die Ziele der Natur und wer überhaupt vermöchte das Unnatürliche? 2.) Die Natur ist nichts so Harmloses, dem man sich ohne Schauder übergeben könnte. 3.) Es fragt sich überhaupt, ob wir etwas können gegen die Natur und ob wir uns der Natur überhaupt hingeben können.« Jetzt findet er einen »idyllischen« Natur- und Kunstbegriff als bisher herrschend [W. IX, S. 242]: »Ich glaube daß wir, wenn wir nicht Künstler sind, die Kunst nur als idyllische Stimmungen und idyllisch verstehen, das ist unser modernes Los: wir genießen also als moralische Wesen. Die griechische Welt ist vorbei«, und bestätigt sich [W. IX, S. 244]: »Auch Shakespeare genießen wir so, als Natur.«

Der »Mangel des Gelehrten« in der griechischen Kultur veranlaßt Nietzsche, den Begriff der Scholastik und des Mittelalters bis zu Schopenhauer auszudehnen. Werke X, S. 178 wird der Aphorismus mitgeteilt: »Schopenhauer, Vereinfacher räumt die Scholastik auf. Wissenschaft und Kultur Gegensätze.« Werke I, S. 418 macht er den Vorschlag: »und wenn die Wälder immer spärlicher werden sollten, möchte es nicht irgendwann einmal an der Zeit sein, die Bibliotheken als Holz, Stroh und Gestrüpp zu behandeln? Sind doch die meisten Bücher aus Rauch und Dampf der Köpfe geboren, so sollten sie auch wieder zu Rauch und Dampf werden.« »Polemik gegen mittelalterlich« steht geradezu auf seinem Programm [W. XI, S. 406]; er beklagt Werke X, S. 185: »Alles Allgemein-Wichtige einer Wissenschaft ist zufällig geworden oder fehlt ganz.

Die Sprachstudien ohne die Stillehre und Rhetorik.

Die indischen Studien ohne die Philosophie.

Das klassische Altertum ohne Zusammenhang mit dem praktischen Bestreben von ihm zu lernen.

Die Naturwissenschaft ohne jene Heilung und Ruhe die Goethe darin fand.

Die Geschichte ohne den Enthusiasmus.

Kurz, alle Wissenschaften ohne die praktische Wendung: also anders getrieben als sie die meisten Kulturmenschen getrieben haben. Die Wissenschaft als Broterwerb«; und fragt schließlich [W. X, S. 179]: »Gegenmittel gegen Wissenschaft. Wo? Die Kultur als Gegenmittel. Um für die empfänglich zu sein, muß man das Ungenügende der Wissenschaft erkannt haben. Tragische Resignation: Gott weiß, was das für eine Kultur wird. Sie fängt von hinten an.« –

Eine meines Erachtens bisher noch viel zu wenig gewürdigte Tatsache ist es dabei, daß die Autoritätsfrage in Kulturdingen Nietzsche schon in Basel in das innigste Schülerverhältnis auch zum gealterten Goethe bringt. Die Gespräche mit Eckermann dürften nicht unbeträchtlich eingewirkt haben. In der zweiten »Unzeitgemäßen Betrachtung« findet sich das Goethezitat: »Wir Deutsche sind von gestern und haben zwar seit einem Jahrhundert ganz tüchtig kultiviert, allein es können noch ein paar Jahrhunderte hingehen, ehe bei unseren Landsleuten soviel Geist und Kultur eindringt, daß man von ihnen wird sagen können, es sei lange her, daß sie Barbaren gewesen.« W. X, S. 482 die Notiz: »Goethe bemerkt bei Klopstock, daß große Menschen ohne würdigen und breiten Wirkungskreis sich in Seltsamkeiten entladen. So aber verzehrt sich unser Volk in Seltsamkeiten.« Ebenfalls im Nachlaß aus dieser Zeit [W. XI, S. 403]: »Goethe: ›Byrons Kühnheit, Keckheit und Grandiosität ist das nicht alles bildend? Wir müssen uns hüten, es stets im entschieden Reinen und Sittlichen suchen zu wollen. Alles Große bildet, sobald wir es gewahr werden.‹ Dies auf Wagners Kunst anzuwenden.« Das im Geheimen geschaute Ideal einer Goetheschen Position ist es, was Nietzsche in derselben Zeit [W. X, S. 514] als »unsere Aufgabe« bezeichnen läßt: »Das Gespaltene, Zerstreute wieder zusammenzubringen und zusammenzuschweißen, einen Herd für die deutsche Kulturarbeit zu gründen, abseits von aller Zeitungskultur und Popularisierung der Wissenschaften.« Damals beschäftigt er sich mit dem Plan, unter dem Titel »Griechen und Barbaren« sein gesamtes Kulturdenken zu veröffentlichen [W. X, S. 520] und projektiert 1872 »ein Promemoria über die Straßburger Universität, als Interpellation bei dem Reichsrat zu Händen Bismarcks, worin ich zeigen will, wie schmählich man einen ungeheuren Moment versäumt hat, eine wirkliche deutsche Bildungsanstalt zur Regeneration des deutschen Geistes und zur Vernichtung der bisherigen sogenannten Kultur zu gründen.« [Brief an Rohde vom 28. 1. 1872]. Ein Vergleich mit Goethe, in aller Bescheidenheit und Skizzenhaftigkeit versucht, ergäbe folgendes: Goethe, der Fürsprecher der Renaissance in seiner Cellini-Obersetzung (die einen so grimmigen Ausfall gegen Savonarola enthält, daß sich der Übersetzer in seiner Tendenz verrät); Goethe, der Fürsprecher Byrons und Napoleons, der irgendwo in seinen Briefen als sein Glaubensbekenntnis die Aristokratie bezeichnet (ich glaube in einem Briefe an Lavater), Goethe treibt Altersphilosophie und hat resigniert. Goethe — Faust lebt zuletzt in patriarchalisch gestillter Zurückgezogenheit dem Resignationsideal für künftige Generationen Gräben und Dämme vorauszuziehen. Er behauptet sich gegen das Barbarentum28. Der dithyrambisch überschäumende Nietzsche-Dionysos, der nach Widerständen geradezu sucht, glaubt seine Zeit reif genug für die Möglichkeit einer befreienden Tat. Er ist aggressiv bis zum Exzeß, tief durchdrungen vom Glauben an die nächste Zukunft, ja im Falle Wagner-Bayreuth sogar vom Glauben an die Gegenwart. Er verfolgt die Tendenz: »Hat es nämlich überhaupt einen Sinn, sich mit seiner Zeit zu beschäftigen, so ist es jedenfalls ein Glück, sich so gründlich wie möglich mit ihr zu beschäftigen, so daß einem über sie gar kein Zweifel übrig bleibt« [W. I, S. 419] und bezeichnet [W. X, S. 178] die »tragische Resignation« als »das Ende der Philosophie«. Sein Satz ist: »nur die Kunst vermag uns zu retten.« Seine Zuversicht: »Niemand hat bis jetzt große Ziele der deutschen Kultur gesteckt.«

Erwähne ich nun noch das Wort Nietzsches über Schopenhauer: »Schopenhauer ist einfach und ehrlich ... Schopenhauer steht zu allem in Widerspruch, was heute als Kultur gilt«, so ist nach all dem Vorausgeschickten wohl geklärt, was Nietzsche meinte, wenn er [W. X, S. 221] sagte: »Ich will Schopenhauer, Wagner und das ältere Griechentum zusammennehmen, es gibt einen Blick auf eine herrliche Kultur.« Das Ideal ist: ein Zeitalter der Kunst, entfaltet aus der Vernichtung alles dessen, was diesem Ideal im Wege steht; die Befreiung der Leidenschaften, des Trieblebens, der Natur, dazu eine entsprechend großartige Bändigung durch die Kunst. Wenn es von diesem Kulturideal [W. X, S. 124] weiterheißt: »Die Kultur eines Volkes offenbart sich in der einheitlichen Bändigung der Triebe dieses Volkes« und [W. I, S. 319]: »Es soll hier ausdrücklich mein Zeugnis stehen, daß es die deutsche Einheit in jenem höchsten Sinne ist, die wir erstreben und heißer erstreben, als die politische Wiedervereinigung: die Einheit des deutschen Geistes und Lebens nach der Vernichtung des Gegensatzes von Form und Inhalt, von Innerlichkeit und Konvention«, so muß die Beantwortung der Frage, was Nietzsche unter Konvention im Gegensatz zur Innerlichkeit verstand, zugleich den Aufschluß darüber bringen, was für ein falsches Prinzip der Bändigung, dessen Widersinn und Unwahrheit durchschaut war, es zu beseitigen galt.


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