III. Die Persönlichkeit


Kandinsky ist Befreiung, Trost, Erlösung und Beruhigung. Man sollte wallfahren zu seinen Bildern: sie sind ein Ausweg aus den Wirren, den Niederlagen und Verzweiflungen der Zeit. Sie sind Befreiung aus einem zusammenbrechenden Jahrtausend. Kandinsky ist einer der ganz großen Erneuerer, Läuterer des Lebens. Die Vitalität seiner Intention ist verblüffend und ebenso unerhört wie die Rembrandts es war für seine Zeit, wie die Vitalität Wagners es war, ein Menschenalter vor uns. Seine Vitalität erfaßt gleicherweise die Musik, den Tanz, das Drama und die Poesie. Seine Bedeutung beruht in einer gleichzeitig praktischen und theoretischen Initiative. Er ist der Kritiker seines Werkes und seiner Epoche. Er ist der Dichter unerreichter Verse, Schöpfer eines neuen Theaterstils, Verfasser einiger der spirituellsten Bücher, die die neue deutsche Literatur aufzuweisen hat. Nur ein Zufall, der Ausbruch des Krieges verhinderte, daß wir von ihm ein Buch über das Theater besitzen, im Format und von der Bedeutung des »Blauen Reiter«. Derselbe Zufall verhinderte die von ihm geplante Begründung einer internationalen Gesellschaft für Kunst, als man nach Mitteln zur Verwirklichung seiner Bühnenkompositionen suchte. Das Zustandekommen dieser Gesellschaft würde unabsehbare Resultate für die Revolutionierung des Theaters mit sich gebracht haben.

Kandinsky ist Russe. Die Idee der Freiheit ist bei ihm sehr ausgeprägt, auf das Gebiet der Kunst übertragen. Was er über Anarchie sagt, erinnert an Sätze von Bakunin und Krapotkin. Nur daß er den Freiheitsbegriff ganz spirituell auf die Ästhetik anwendet. Im »Blauen Reiter« über die Formfrage schreibt er: »Anarchie nennen viele den gegenwärtigen Zustand der Malerei. Dasselbe Wort wird schon hier und da auch bei der Bezeichnung des gegenwärtigen Zustands in der Musik gebraucht. Darunter versteht man fälschlich ein planloses Umwerfen und Unordnung. Die Anarchie ist aber Planmäßigkeit und Ordnung, welche nicht durch eine äußere und schließlich versagende Gewalt hergestellt, sondern durch das Gefühl des Guten geschaffen werden.« Dieses »Gefühl des Guten« oder die »innere Notwendigkeit« ist das einzige und letzte Schaffensprinzip, das er anerkennt. Die »innere Notwendigkeit« allein gibt der freien Intuition Grenzen, die innere Notwendigkeit bildet die äußere, sichtbare Form des Werkes. Die innere Notwendigkeit ist es, auf die alles zuletzt ankommt, sie verteilt die Farben, Formen und Gewichte, sie trägt die Verantwortung auch für das gewagteste Experiment. Sie allein ist die Antwort auf die Frage nach dem Sinn und Urgrund der Bilder. In ihr dokumentieren sich die drei Elemente, aus denen das Kunstwerk besteht: Zeit, Persönlichkeit und Kunstprinzip. Sie bildet den Hauptklang, von dem die Nebenklänge sich abheben. Sie ist das letzte Tor, das der anstürmende Künstler nicht mehr zu zerbrechen fähig ist. Und selbst von ihr, der Form seiner Werke, sagt Kandinsky: »Der Geist schafft eine Form und geht zu weiteren Formen über« und ein andermal: »Nicht der neue Wert ist das wichtigste, sondern der Geist, welcher sich in diesem Werke offenbart hat. Und weiter die für die Offenbarungen notwendige Freiheit.« So wird ihm jedes Werk »Kind seiner Zeit und Mutter der Zukunft.« Indem er den Klang, die Essenz eines Dinges bis ins Innerste verfolgt, läßt er ihm zugleich den weitesten Spielraum.

Kandinsky beweist seine Nation nicht nur in der Form, sondern auch in der Farbe. Das bunte Rußland ist in seinen Werken wie bei keinem sonst. Die weite Schneefläche, darüber das Abend- oder Morgenrot, die Himbeerfarbe der Troika-Glöckchen, die bunten Glasmalereien der Bauernstuben, die Farben, von Bauernfesten und die blauen Muttergottesmäntel, eisige Klarheit und Luzidität, daneben das Schummern der Farben, wie sie in Nordlichtern stehen, starkes Grün, Weiß, Zinnober, wenn man sich die Bilder Kandinskys verkleinert denkt im Format, gesammelt in Duodezformat, findet man die Farben und die Intensität glasgemalter Heiligenbilder. Und wenn man Rußland einmal gefunden hat in seinen Bildern, dann findet man Formen von Ziehbrunnen, Kompositionsformen, die an einen auf beiden Schultern beladenen Wasserträger erinnern (wie im »Bild mit rotem Fleck«). Dann findet man Steppenreiter, Hufschläge, Litaneien und Osterfeste, deren Reminiszenzen selbst die vergeistigste Kunst nicht ganz zu löschen vermochte. Dann findet man das rührend einfache, christlich-reine, unberührte, stille und märchenhaft atmende Rußland, das wie ein aufwachender Morgen groß und gewaltig am Himmel entbrennt. Dann findet man in Kandinsky einen Herold der Freiheit seines großen, an Japan und Grönland grenzenden Volkes. Mir war immer besonders lieb das Bild Nummer 41, in dem ich gerade dieses Angrenzen, dieses Erwachen, diese Reinheit grönlandischer Polarlichter und japanischer Formfinessen in zärtester Form vermischt und bestätigt fand. Uns Westeuropäern erscheint diese ungebrochene Farbenreinheit und Größe der Intuition als Romantik. Stand aber Rußland nicht immer romantisch zum Westen? War Dostojewski nicht der letzte große Romantiker? Ist das russische Christentum nicht das stärkste und letzte Bollwerk der Romantik im heutigen Europa? Das ist gerade sein kultureller Wert.


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