Von London: St. Gilles und Umgebung


Nehmen wir einige dieser schlechten Viertel durch. Da ist zuerst London,2) und in London die berühmte "Rabenheckerei" (rookery), St. Giles, die jetzt endlich durch ein paar breite Straßen durchbrochen und so vernichtet werden soll. Dies St. Giles liegt mitten im bevölkertsten Teile der Stadt, umgeben von glänzenden, breiten Straßen, in denen die schöne Welt Londons sich herumtreibt - ganz in der Nähe von Oxford Street und Regent Street, von Trafalgar Square und dem Strand. Es ist eine unordentliche Masse von hohen, drei- bis vierstöckigen Häusern, mit engen, krummen und schmutzigen Straßen, auf denen wenigstens ebensoviel Leben ist wie auf den Hauptrouten durch die Stadt, nur daß man in St. Giles bloß Leute aus der arbeitenden Klasse sieht. Auf den Straßen wird Markt gehalten, Körbe mit Gemüse und Obst, natürlich alles schlecht und kaum genießbar, verengen die Passage noch mehr, und von ihnen, wie von den Fleischerläden, geht ein abscheulicher Geruch aus. Die Häuser sind bewohnt vom Keller bis hart unters Dach, schmutzig von außen und innen, und sehen aus, daß kein Mensch drin wohnen möchte. Das ist aber noch alles nichts gegen die Wohnungen in den engen Höfen und Gäßchen zwischen den Straßen, in die man durch bedeckte Gänge zwischen den Häusern hineingeht und in denen der Schmutz und die Baufälligkeit alle Vorstellung übertrifft - fast keine ganze Fensterscheibe ist zu sehen, die Mauern bröcklig, die Türpfosten und Fensterrahmen zerbrochen und lose, die Türen von alten Brettern zusammengenagelt oder gar nicht vorhanden - hier in diesem Diebsviertel sogar sind keine Türen nötig, weil nichts zu stehlen ist. Haufen von Schmutz und Asche liegen überall umher, und die vor die Tür geschütteten schmutzigen Flüssigkeiten sammeln sich in stinkenden Pfützen. Hier wohnen die Ärmsten der Armen, die am schlechtesten bezahlten Arbeiter mit Dieben, Gaunern und Opfern der Prostitution bunt durcheinander - die meisten sind Irländer oder Abkömmlinge von Irländern, und diejenigen, die selbst noch nicht in dem Strudel moralischer Verkommenheit, der sie umgibt, untergegangen sind, sinken doch täglich tiefer, verlieren täglich mehr und mehr die Kraft, den demoralisierenden Einflüssen der Not, des Schmutzes und der schlechten Umgebung zu widerstehen.

Aber St. Giles ist nicht das einzige "schlechte Viertel" Londons. In dem ungeheuren Straßenknäul gibt es Hunderte und Tausende verborgener Gassen und Gäßchen, deren Häuser zu schlecht sind für alle, die noch etwas auf menschliche Wohnung verwenden können - oft dicht neben den glänzenden Häusern der Reichen findet man solche Schlupfwinkel der bittersten Armut. So wurde vor kurzem, bei Gelegenheit einer Totenschau, eine Gegend dicht bei Portman Square, einem sehr anständigen öffentlichen Platze, als der Aufenthalt "einer Menge durch Schmutz und Armut demoralisierter Irländer" bezeichnet. So findet man in Straßen wie Long Acre usw., die zwar nicht fashionabel, aber doch anständig sind, eine Menge Kellerwohnungen, aus denen kränkliche Kindergestalten und halbverhungerte, zerlumpte Frauen ans Tageslicht steigen. In der unmittelbaren Nähe des Drury Lane Theaters - des zweiten von London - sind einige der schlechtesten Straßen der ganzen Stadt - Charles, King und Parker Street, deren Häuser ebenfalls von den Kellern an bis unters Dach von lauter armen Familien bewohnt sind. In den Pfarren St. John und St. Margaret in Westminster wohnten 1840 nach dem Journal der Statistischen Gesellschaft 5 366 Arbeiterfamilien in 5 294 "Wohnungen" - wenn sie diesen Namen verdienen -, Männer, Weiber und Kinder, ohne Rücksicht auf Alter oder Geschlecht zusammengeworfen, zusammen 26 830 Individuen, und von der obigen Familienzahl hatten drei Viertel nur ein einziges Zimmer. In der aristokratischen Pfarre St. Georg, Hanover Square, wohnten nach derselben Autorität 1 465 Arbeiterfamilien, zusammen an 6 000 Personen, in gleichen Verhältnissen - auch hier über zwei Drittel der ganzen Anzahl auf je ein Zimmer für die Familie zusammengedrängt. Und wie wird die Armut dieser Unglücklichen, bei denen selbst Diebe nichts mehr zu finden hoffen, von den besitzenden Klassen auf gesetzlichem Wege ausgebeutet! Die scheußlichen Wohnungen bei Drury Lane, deren eben erwähnt wurde, bezahlen folgende Mieten: zwei Kellerwohnungen 3 sh. (1 Taler), ein Zimmer parterre 4 sh., eine Treppe hoch 41/2 sh., zwei Treppen hoch 4 sh., Dachstuben 3 sh. wöchentlich - so daß allein die ausgehungerten Bewohner der Charles Street den Häuserbesitzern einen jährlichen Tribut von 2 000 Pfd. St. (14 000 Taler) und die erwähnten 5 366 Familien in Westminster eine jährliche Miete von zusammen 40000 Pfd. St. (270000 Taler) bezahlen.

 

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2) Seitdem ich die nachfolgende Darstellung geschrieben, ist mir ein Artikel über die Arbeiterdistrikte in London im "Illuminated Magazine (Oktober 1844) zu Gesicht gekommen, der mit meiner Schilderung - an vielen Stellen fast wörtlich, aber auch sonst der Sache nach überall vollständig übereinstimmt. Er ist überschrieben: "The Dwellings of the Poor, from the note-book of an M. D." (Medicinae Doctor).


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Seite zuletzt aktualisiert: 11.10.2005 
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