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I. [Wirklichkeit und Wert als gegeneinander selbständige Kategorien, durch die unsere Vorstellungsinhalte zu Weltbildern werden]

 

Gibt es erst einmal einen Wert, so sind die Wege seiner Verwirklichung, ist seine Weiterentwicklung verstandesmäßig zu begreifen, denn nun folgt sie - mindestens abschnittsweise - der Struktur der Wirklichkeitsinhalte. Daß es ihn aber gibt, ist ein Urphänomen. Alle Deduktionen des Wertes machen nur die Bedingungen kenntlich, auf die hin er sich, schließlich ganz unvermittelt, einstellt, ohne doch aus ihnen hergestellt zu werden - wie alle theoretischen Beweise nur die Bedingungen bereiten können, auf die hin jenes Gefühl der Bejahung oder des Daseins eintritt. So wenig man zu sagen wüßte, was denn das Sein eigentlich sei, so wenig kann man diese Frage dem Wert gegenüber beantworten. Und gerade indem sie so das formal gleiche Verhältnis, zu den Dingen haben, sind sie einander so fremd wie bei Spinoza das Denken und die Ausdehnung: weil diese beiden ebendasselbe, die absolute Substanz, ausdrücken, jedes aber auf seine Weise und für sich vollständig, kann nie eines in das andere übergreifen. Sie berühren sich nirgends, weil sie die Begriffe der Dinge nach völlig Verschiedenem fragen. Aber mit diesem berührungslosen Nebeneinander von Wirklichkeit und Wert ist die Welt keineswegs in eine sterile Zweiheit zerrissen, bei der sich das Einheitsbedürfnis des Geistes niemals beruhigen würde - selbst wenn es sein Schicksal und die Formel seines Suchens wäre, sich von der Vielheit zur Einheit und von der Einheit zur Vielheit abschlußlos zu bewegen. Oberhalb von Wert und Wirklichkeit liegt, was ihnen gemeinsam ist: die Inhalte, das, was Plato schließlich mit den »Ideen« gemeint hat, das Bezeichenbare, Qualitative, in Begriffe zu Fassende an der Wirklichkeit und in unseren Wertungen, das, was gleichmäßig in die eine wie in die andere Ordnung eintreten kann. Unterhalb aber dieser beiden liegt das, dem sie beide gemeinsam sind: die Seele, die das eine wie das andere in ihre geheimnisvolle Einheit aufnimmt oder aus ihr erzeugt. Die Wirklichkeit und der Wert sind gleichsam zwei verschiedene Sprachen, in denen die logisch zusammenhängenden, in ideeller Einheit gültigen Inhalte der Welt, das, was man ihr »Was« genannt hat, sich der einheitlichen Seele verständlich machen - oder auch die Sprachen, in denen die Seele das reine, an sich noch jenseits dieses Gegensatzes stehende Bild dieser Inhalte ausdrücken kann. Und vielleicht werden diese beiden Zusammenfassungen ihrer, die erkennende und die wertende, noch einmal von einer metaphysischen Einheit umfaßt, für die die Sprache kein Wort hat, es sei denn in religiösen Symbolen. Vielleicht gibt es einen Weltgrund, von dem aus gesehen die Fremdheiten und Divergenzen, die wir zwischen der Wirklichkeit und dem Wert empfinden, nicht mehr bestehen, wo beide Reihen sich als eine einzige enthüllen - sei es, daß diese Einheit überhaupt von jenen Kategorien nicht berührt wird, in erhabener Indifferenz über ihnen steht, sei es, daß sie eine durchweg harmonische, an allen Punkten gleichartige Verflechtung beider bedeutet, die nur von unserer Auffassungsweise wie von einem fehlerhaften Sehapparat auseinandergezogen, zu Bruchstücken und Gegenrichtungen verzerrt wird.

 

 


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Seite zuletzt aktualisiert: 27.09.2004