Übersiedlung nach Potsdam
Er übersiedelte nach Potsdam, um bei der dortigen Regierung als Hilfsarbeiter einzutreten. Zugleich beschäftigen ihn Vorarbeiten zu einem juristischen oder kameralistischen Examen, das er noch zu absolvieren hatte. Es heißt, als er einige Monate später wirklich an die Absolvierung desselben ging, hätten die Examinatoren offen erklärt, »daß es sich bei dem glänzenden und vielseitigen Wissen des zu Examinierenden nur um die Erfüllung einer Form handeln könne, deren Innehaltung ihnen Verlegenheit bereite«.
Marwitz blieb in Potsdam etwa anderthalb Jahre, vom Sommer 1811 bis zum Schluß des Jahres 1812. Wir können diesen Zeitraum, wie auch das Jahr 1813, das er draußen im Felde zubrachte, besser überblicken als irgendeine andere Epoche seines Lebens, und haben den Eindruck einer nicht länger ins Weite schweifenden Existenz. Die Richtung auf das »Immense« ist aufgegeben und das Bestreben wird sichtbar, von einem bestimmten Punkt aus, nach der ihm gewordenen Kraft zu wirken und zu gestalten. Er hat nicht das Glück, aber doch Bescheidung und Ergebung gefunden; die Leidenschaften sind gezähmt. Eine gerade in dieser Zeit besonders lebhafte Korrespondenz zwischen ihm und Rahel läßt uns Einblick in wenigstens eine Seite seines Tuns und Treibens gewinnen. Politische Dinge werden wenig berührt, oder doch nur in philosophisch abstrakter Weise. Persönlichstes aber kommt ausführlich zur Sprache und ästhetische Fragen werden mit Vorliebe behandelt. »Antworten Sie gleich, Ihre Briefe sind mir unentbehrlich«, schreibt Marwitz und fährt an einer anderen Stelle fort: »O wüßten Sie, wie ich Ihre Briefe empfange! Ich lese sie drei-, viermal hintereinander, und dann laufe ich im Zimmer umher und lasse den Inhalt Ihrer Zeilen in mir nachklingen.« Tagebuchartig werden die Briefe geführt, was der Tag bringt und verweigert, wird besprochen. »Mit welchem Herzensanteil verfolge ich Ihre Spaziergänge in Sanssouci, wie gerne nähme ich teil daran!« schreibt Rahel und Marwitz antwortet: »Auf Sanssouci war ich lange nicht, es ist jetzt dort stürmisch und öde; öfters ging ich im Neuen Garten, wo der flutende See und die vielen dichten Tannengebüsche es lebendiger machen und die Marmorhalle vor dem Hause mir ernste, rührende und schwermütige Gedanken erweckt.« Immer wird von Berlin aus zur Arbeit ermutigt. »Nur ans Werk, wir warten hier auf Ihre Arbeit über die Propyläen und über die Politik des Aristoteles.« Daran schließen sich die Vorkommnisse der großen Stadt; Reflexionen ranken sich um Großes und Kleines. »Gern hätte ich Ihnen gestern schon geschrieben, wenn mich nicht die Nachricht von Heinrich Kleists Tod völlig eingenommen hätte. Ich kenne nicht die näheren Umstände seines Todes; aber es ist und bleibt ein Mut. Wer bangte nicht vor jenen ›dunkeln Möglichkeiten‹? Forsche ein jeder selbst, ob es viele oder wenige sind.« So schreibt Rahel, wohl in Vergessenheit, daß sie die Antwort auf diesen Brief vorweg empfangen hatte, als ihr Marwitz von Friedersdorf aus die schon zitierten Worte schrieb: »Mir ist der Selbstmord immer wie eine verruchte Roheit vorgekommen.«
So läuft das briefliche Geplauder zwischen den Befreundeten, einmal heiter, einmal paradox, einmal tief, wie Stimmung und Ereignis das Wort gestalten. Jeden Abend schrieb er, aber der Tag gehörte den Studien. Die Marwitzsche Familie ist noch im Besitz umfangreicher Essays, kritischer Abhandlungen und Gutachten, die jener reifen Zeit ihre Entstehung verdanken. Alle diese Memoires teilen sich in zwei Gruppen, in politische und staatswissenschaftliche. In den Charakter und die Eigenart Napoleons einzudringen, schien er sich zu einer besonderen Aufgabe gemacht zu haben, und man erstaunt billig über die Reichhaltigkeit der zu diesem Zweck unternommenen Studien. Alles, was erschien, wurde gelesen und exzerpiert und unter der Überschrift »Bonapartiana« zusammengestellt. Dazu gesellten sich mündliche Mitteilungen und Auszüge aus Briefen. Was der Tag brachte, ward in bunter Reihenfolge registriert, und Oberst Spiegel, Gentz, Brinkmann, Fürst Lichtenstein, Oberst Bentheim, Itzenplitz, Müffling, General Krusemark fanden sich hier auf denselben Blättern zusammen. »Chassez moi cette Canaille là!« so erzählt Oberst Spiegel, donnerte Bonaparte einem seiner Kammerherren zu, als er bei einer großen Cour jene dreizehn Kardinäle erblickte, die sich in der Scheidungs- und Wiedervermählungsfrage gegen ihn erklärt hatten. Und wenige Tage später – so fährt derselbe Oberst Spiegel fort – spuckte der Kaiser, mit unverkennbarer Absicht, mitten in die Reihe der Könige hinein, die bei der großen Vermählungszeremonie mit Marie Luise unmittelbar hinter ihm standen.
Von besonderem Interesse unter diesen Aufzeichnungen ist die Ansprache Napoleons an eine Deputation märkischer Stände, die, wenn ich nicht irre zu Dresden, auf sein spezielles Geheiß vor ihm erschienen war. Der Kaiser, der sie durch liberale Phrasen kirren und an sich und seine Sache fesseln wollte, sagte mit jener rücksichtslosen Offenheit, die er ebensogut wie List und Verschlagenheit zu handhaben wußte: »Vous êtes gouvernés que cela fait pitié. Votre roi est... Si l'empereur Alexandre avait tardé de trois jours de faire sa paix, j'aurais détrôné votre.., et je vous aurais fait une constitution, qui vous manque. Nous sommes tous des Romains, les Français, les Italiens et les Allemands, nous sommes la même nation. Je vous aime, vous êtes de bons enfants. Mais par exemple je ne fais pas cas de vos militaires. D'un côté ils ne sont pas de héros, et de l'autre ils ont marché sur les têtes des bourgeois. – Je suis militaire, et ce n'est pas moi, qui voudra jamais déroger aux privilèges du militaire, mais je ne permettrai jamais que mes soldats traitent les citoyens français comme les votres vous ont traités.« Itzenplitz, der ein Mitglied der Deputation war, hat diese Worte aufgezeichnet. Marwitz sammelte dergleichen zu doppeltem Zweck, zu seiner Instruktion und zur Nährung seines Hasses.
Aber Hand in Hand mit diesen losen Kollektaneen, bei deren Durchblättern die ganze Epoche, der sie angehören, wieder lebendig vor uns hintritt, gingen abgerundete, tief durchdachte Arbeiten, von denen uns wenigstens eine über die sogenannte »Separation«, d.h. »die Teilung der Gemeinheiten« in aller Vollständigkeit aufbewahrt worden ist. Marwitz ist gegen die Separation. Er sucht zu beweisen, daß die »Teilung der Gemeinheiten« und das sogenannte »Abbauen der Dörfer« ein Fehler sei; ein Fehler deshalb, weil es den Egoismus des einzelnen steigere, statt ihn zu mindern. Dieser Egoismus erscheint ihm als der Wurm, der den Geist der Nationen zerstört. Lassen wir ihn selber sprechen.
»Die Nationalkraft ist der Urgrund alles Produzierens. Selbst wenn unsere Zustände, wie sie jetzt sind, sich befestigen sollten, selbst wenn wir Zeiten der Ruhe entgegengingen, die einen ungestörten Auf- und Ausbau dessen zuließen, was ihr einzuführen gedenkt (Separation und Dörferabbau), so würde damit wenig gewonnen sein. Die Welt hat solche Zeiten schon einmal gesehen. Es waren die Zeiten der besseren römischen Kaiser. Friede herrschte von den Säulen des Herkules bis zu den Ufern des Euphrat; das Recht war genau bestimmt und wurde strenge gehandhabt, es wurden manche Roheiten der früheren Zeit verbannt durch die milde Gesinnung der Herrscher und überhaupt alle Störungen entfernt, die dem Wohlsein der einzelnen entgegenstehen mochten. Und doch waren dies dieselben Zeiten, in denen in den höheren Regionen des menschlichen Daseins völlige Öde herrschte, Zeiten, in denen weder Wissenschaft noch Religion, noch Vaterland die Menschen begeisterte. Aber mehr denn das -mehr in den Augen derer, die sich durch die Erscheinung bestechen lassen – auch der äußere Glanz verfiel. Schon unter Augustus verödeten ehemals berühmte Städte, und unter Trajan, dem besten der Kaiser, wurden im ganzen Peloponnes weniger Menschen gezählt, als früher in der einzigen Stadt Athen. So wahr ist es, daß nicht der einzelne produziert, sondern der Geist der Nationen, und daß, wo dieser erstorben und mit ihm Lebenslust und Freude an der Gegenwart entschwunden ist, auch das äußere Dasein allmählich in eine kümmerliche und barbarische Entartung zurücksinkt. Auf den Gemeinsinn, auf die Gesamtkraft kommt es an; diese zu wecken ist Aufgabe, und alles, was die Kleinheit der Gesinnung und den Egoismus nährt, das schwächt die nationale Kraft und mindert dadurch den wahren und zuletzt auch den alleräußerlichsten Reichtum des Landes. Wohin der Dörferabbau führt, das läßt sich nirgends besser studieren, als im Oderbruch. Es gibt kaum ein ruchloseres Geschlecht. Weder vor göttlichen noch vor menschlichen Dingen haben sie Ehrfurcht, weder den Nachbarn wollen sie helfen, noch dem Staate dienen. Das letztere mit einigem Recht, denn sie verdanken ihm nichts. Im Gegenteil, er hat sie ausgestoßen und sie ihrer eigenen heillosen Roheit preisgegeben.«
So waren Marwitzens Gedanken über diese hochwichtige Frage. Er suchte sie nicht als ein »Praktiker«, sondern von einem höheren Gesichtspunkt aus zu lösen. Nicht in allem hat er Recht behalten. Die Separation, die Teilung der Gemeinheiten ist erfolgt und dem Lande, wie sich kaum bestreiten läßt, zum Segen ausgeschlagen. Aber wenn auch die Gesamtheit seiner Aufstellungen seitdem widerlegt sein sollte, was nicht der Fall ist, so würden wir doch immer einer Gesinnung zuzustimmen haben, die diese Fragen von einem idealen Standpunkt aus zu regeln trachtete. Nicht als ein Richtiges, praktisch Unangreifbares habe ich seine Aussprüche zitiert, sondern nur um die hohe Art eines Charakters zu zeichnen, der es verschmähte, dem Tage und der Mode zu dienen. Sein Blick drang in Zeit und Raum über das Zunächstliegende hinaus.
Unter solchen und ähnlichen Arbeiten, nur unterbrochen, wenn ein Besuch ihn zu den Berliner Freunden hinüberführte, verfloß das Jahr 1812. Der November und die ersten Wochen des Dezember vergingen in wachsender Aufregung: die aus Rußland eintreffenden Nachrichten meldeten den sich vorbereitenden Untergang des Napoleonischen Heeres. Wie ihn das erfaßte! Ein Hoffnungsstrahl dämmerte wieder. Die Studien, die Bücher waren ihm viel, aber der Krieg war ihm mehr, wenigstens ein solcher Krieg. »Alles Wissen war wertlos in einem Sklavenlande.« Krieg war gleichbedeutend mit Freiheit. Etwa am. 18. Dezember traf in Berlin die Nachricht vom Beresinaübergang ein. Marwitz war wie elektrisiert. Es war ihm klar, daß Preußen sich auf der Stelle erheben, die Reste der großen Armee gefangennehmen und dadurch auf einen Schlag die Niederlage des Kaisers vollenden mußte. Die eigene Wiederherstellung ergab sich dann von selbst. Aber wie das ins Werk setzen? Er kannte zu gut die Halbheit, die Unentschiedenheit, die in den höchsten Regierungskreisen maßgebend war. Wie war dieser Geist der Schwäche zu bannen? Er beschwor zunächst seinen älteren Bruder, alles alten Grolls uneingedenk zu sein, und, wie schon erzählt, eine Audienz bei Hardenberg nachzusuchen. Aber die Politik des Abwartens war noch nicht zu Ende.
Beide Brüder empfanden die Hardenbergschen Vertröstungen mit gleicher Bitterkeit; während aber der ältere nach Friedersdorf zurückkehrte, »auf Gott vertrauend, daß er sein großes begonnenes Wunder auch vollführen werde«, brannte dem jüngeren der Boden unter den Füßen. Er konnte sich nicht länger zur Untätigkeit verdammt sehen, und wenn Hardenberg nicht konnte oder wollte, so wollte er. In den ersten Tagen des Januar eilte er nach Ostpreußen. Hier wirkte er mit, daß sich die Provinz für Rußland und den General York erklärte und ihre Landwehr zu errichten begann.
Als die ersten Reiterkorps der Russen über die Weichsel gingen, schloß er sich dem Oberst Tettenborn an. Diesen suchte er, als man ins Neumärkische kam, zu kühnen Streifzügen gegen Frankfurt, Seelow und andere kleine Städte, in denen die Trümmer der französischen Armee Posto gefaßt hatten, zu veranlassen; Tettenborn aber, der sehr eitel war und durch einen nichtssagenden Streifzug gegen Berlin von sich reden machen wollte, opferte wirkliche Vorteile seiner Eitelkeit auf. Marwitz, als er das Spiel durchschaute, ging nach Breslau, um seinen Eintritt in die preußische Armee zu betreiben. Hier aber entwickelte sich alles zu langsam, und bei der Unruhe, die ihn verzehrte, konnte er das Hingehaltenwerden, das Abwickeln großer Dinge nach der Nummer, nicht länger ertragen. Er verließ Breslau wieder, gesellte sich abermals zu den Russen und wohnte dem Gefechte bei Lüneburg bei, das mit der Vernichtung des Morandschen Korps endigte. Darauf begab er sich zu Tschernyschew, wurde dem General Benkendorf attachiert und zeichnete sich bei Halberstadt und Leipzig aus, bei welcher Gelegenheit er dem ganzen Korps sehr wesentliche Dienste leistete.
Indessen, wie sich denken läßt, vermochte er den Gedanken nicht aufzugeben, diesen schönsten Kampf, der je gekämpft worden, auf preußischer Seite mitzukämpfen. Im Jahre 1809 hatte er im österreichischen Heere gestanden, jetzt stand er in russischem Dienst und war auch der Feind ein gemeinsamer, so schmerzte es ihn doch, halb unter fremden Fahnen zu fechten. Er bat also abermals um Anstellung im Preußischen. Da man ihn aber nun bei der Infanterie verwenden zu können meinte, und dieser Dienst weder seiner Neigung, noch seiner Körperkonstitution entsprach, so zerschlugen sich die Unterhandlungen abermals und er blieb bei den Russen.
Gleich nach dem Waffenstillstand, am 21. oder 24. August, war er mit Tschernyschew in der Nähe von Wittenberg und griff mit den Kosaken ein Karree polnischer Infanterie an. Das Pferd wurde ihm unterm Leib erschossen, die Kosaken kehrten um und ein Pole, der aus dem Karree heraustrat, hieb mit seinem kurzen Säbel auf ihn ein. Marwitz schützte sich mit seinem Arm, so gut er konnte, der ihm denn auch, samt der Hand, bei dieser Gelegenheit völlig zerhackt und zerhauen wurde. Endlich trat ein Offizier heraus und rettete ihn. Er ward in das Karree genommen und so angesichts der Seinigen, da die Kosaken nicht wieder zum Angriff zu bringen waren, erst nach Wittenberg, dann nach Leipzig geführt, wo er schlecht behandelt, eng eingesperrt und seine Wunden vernachlässigt wurden. Ende September gelang es ihm, sich unter vielen Gefahren und Abenteuern nach Prag hin zu retten. Hier wurden seine Wunden geheilt, aber die Hand blieb steif und unbrauchbar.