Charakter Marwitzens


Die Schilderung des Marwitzschen Lebensganges war zugleich eine Schilderung seines Charakters. Über diesen letzteren aber mögen noch einige Bemerkungen hier Platz finden: Ich knüpfe zu diesem Behuf an die Vorgänge des Jahres 1811 an. Das Auftreten Marwitzens in jener Epoche, wenn man ihm irgendwie gerecht werden will, muß von zwei Gesichtspunkten, vom juristischen und politischen aus, betrachtet werden. Das Urteil über dieselben Vorgänge wird sich danach sehr verschieden gestalten.

Was zunächst die juristische Seite angeht, so hatte Hardenberg selbst das Recht der Stände anerkannt und mehr denn einmal der patriotischen Haltung derselben die königliche Anerkennung ausgesprochen. Nichts konnte deshalb falscher und begriffsverwirrender sein, als das Eintreten für ein derartig anerkanntes Recht auf Rebellion zu deuten. Da es dennoch geschah, mag, wo nicht politische Berechnung und reformatorischer Eifer ein richtigeres Urteil trübten, als Beweis dienen für den Servilismus und die Indolenz jener Zeit.

Noch einmal, das Recht war unbestreitbar auf seiten der Stände und dies ständische Recht war verletzt. Gegen diese Verletzung hatte Marwitz protestiert. Der Protest war mutig und ehrenhaft. Aber freilich, wenn er, außer dem persönlichen Zugeständnis, mutig und ehrenhaft gehandelt zu haben, auch noch Sympathien für die Sache wecken wollte, so mußte sich das Festhalten am Prinzip über den Verdacht einer Donquixoterie, einer bloßen Rechtsmarotte erheben. Auch das beste Recht, wenn es sich sträubt, einem neuen Platz zu machen, muß den Beweis erbringen, daß es mehr ist als ein toter Buchstabe, als eine Last und ein Hemmnis. Es bleibt »Recht« auch ohne diesen Beweis, aber ein Recht, dem jeder wünscht, daß es dem formellen Unrecht unterliegen möge. Das fühlte Marwitz sehr wohl. Er verteidigte also das Ständische als ein äußerlich ererbtes Gut, aber er hielt es auch aufrecht im vollen Glauben an die innerliche Berechtigung desselben. Dies führt mich von der einfachen Rechtsfrage auf das politische Gebiet.

Mußte der alte ständische Bau fallen oder nicht? Millionen sagten ja, Marwitz sagte nein. Für ihn handelte sich alles um Wiederbelebung; nicht Tod, nur Lähmung war über den alten, kräftigen Organismus des Landes gekommen; es galt einen Bann, eine Krankheit von ihm zu nehmen, und alles war wieder gut. Nicht die Paragraphen und Institutionen, die Herzen der Menschen wollte er ändern; an die Stelle kleiner Gesinnung sollten hohe Liebe und idealer Schwung, an die Stelle philiströser Beschränktheit eine opferfreudige Begeisterung treten, – so wollte er reformieren. Vortrefflich. Aber wie? wodurch? Um die Weckung oder Mehrung dieser Dinge hat es sich immer gehandelt. Wie wollte Marwitz an die Herzen heran, wie wollte er das Wunder vollziehen? Die Antwort auf diese Frage ist er schuldig geblieben. Er zeigte das Ziel, aber nicht den Weg. Die bloße Bußpredigt und ein langes Sündenregister haben noch nie geholfen. Hier liegt sein Fehler, sein politischer Fehler. Das Alte, ob mit Recht oder Unrecht, war jedem ein Greuel geworden; es war unmöglich, wenigstens damals unmöglich, eine Begeisterung dafür zu wecken; wenn diese geweckt werden sollte, so mußte es für etwas Neues sein, selbst auf die Gefahr hin, daß es sich als ein Falsches erweisen würde. Es handelte sich zunächst nicht um gesunde Nahrungs-, sondern viel, viel mehr um Belebungs- und Erweckungsmittel. Dies wußte Hardenberg und in dem Sinne handelte er. Und dafür haben wir ihm zu danken.

Der alte ständische Staat hatte dem Sturm nicht widerstanden und ein neues Haus mußte bezogen werden, wenigstens auf Probe. Möglich, daß der Zusammensturz nicht an der Schlechtigkeit des alten Baues, sondern an der Heftigkeit des Sturmes gelegen hatte; möglich das alles, aber die Verhältnisse gestatteten damals nicht, in die Diskussion solcher Fragen einzutreten. Rasche Hilfe war nötig. Dreißig Jahre später lagen die Dinge günstiger, und Friedrich Wilhelm IV. durfte bei seinem Regierungsantritte das Experiment wagen, den unterm Drang der Umstände kritiklos beiseite geworfenen ständischen Staat noch einmal auf seinen Wert und seine Stichhaltigkeit hin zu prüfen. Das Jahr 1847 brachte den vereinigten Landtag. Ob die Formen, unter denen dieser ins Leben trat, ob namentlich die rheinische Bourgeoisie und ihr großer Einfluß dem Marwitzschen Ideal entsprochen hätten, muß freilich dahingestellt bleiben.

Diese nur allzu begründeten Zweifel führen mich auf Marwitzens angreifbarsten Punkt, auf sein Verhältnis zum Bürgerstand. Er ließ den »Bürgerstand« gelten, soweit er in die alte ständische Institution hineinpaßte, aber er haßte die »Gebildeten«. Und da die Bürgerlichen zu jener Zeit überwiegend die Träger dieser Bildung waren, so wurde daraus eine Verkleinerung, eine völlig schiefe Stellung zum Bürgertum überhaupt. Daß ihm das damalige, von Revolutionsideen erfüllte Bürgertum, das wenigstens hier und dort die Niederlage von Jena mit Befriedigung vernommen hatte, wenig sympathisch war, war ebenso begreiflich wie berechtigt, aber er verharrte in dieser Abneigung auch noch, als die Ereignisse des Jahres 1813, und zwar nicht nur die Erhebung des Volks, sondern ganz speziell die Begeisterung der »Gebildeten«, ihm den Beweis geliefert hatte, daß auch ein Bücherwurm und Wissenschaftler für eine gute Sache zu fechten und zu sterben verstehe. Er selbst gab diese Dinge im einzelnen zu, aber dem ganzen Stande gegenüber blieb ihm das aristokratische Vorurteil. Der Adel nahm in seinen Augen nicht nur politisch und gesellschaftlich, sondern auch moralisch eine überlegene Sonderstellung ein; seine Gesinnung war besser, ebenso seine Haltung, und so viel Wahrheit und partielle Berechtigung, namentlich angesichts unseres märkischen Spießbürgertums, in dieser Auffassung liegen mochte, so führte dieselbe doch gelegentlich zu den allerbedenklichsten Konsequenzen. Eine Anekdote mag dies zeigen.

Im Jahre 1806 traf unser Marwitz, wenige Tage vor der Jenaer Schlacht, im Schlosse zu Weimar mit Goethe zusammen. Wie schildert er nun diesen? »Er war ein großer, schöner Mann, der stets im gestickten Hofkleide, gepudert, mit einem Haarbeutel und Galanteriedegen, durchaus nur den Minister sehen ließ und die Würde seines Ranges gut repräsentierte, wenngleich der natürlich freie Anstand des Vornehmen sich vermissen ließ.« Also auch Goethe konnte sich in Haltung und Erscheinung nicht bis zur Ebenbürtigkeit erheben. Er war ein anstandsvoller Minister und ein großer Poet, war der Freund seines Fürsten und der leuchtende Stern des Hofes, aber geboren als ein Bürgerssohn zu Frankfurt, ließ er doch den »freien Anstand des Vornehmen vermissen«. Es gebrach ein unaussprechliches Etwas, vielleicht die hohe Schule des Regiments Gensdarmes.

Und bei dieser Gelegenheit möge ein kleiner Exkurs gestattet sein. Es ist mit der Kunst des Anstands, wie beispielsweise mit der Kunst des Reitenkönnens und vielleicht mit vielen andern Künsten. Jeder, Individuum wie Nationen, glaubt im Besitze des Rechten zu sein. Die englischen Gentlemen sagen zu deutschen Kavalieren: »Ihr seid die besten Reiteroffiziere, aber ihr könnt nicht reiten«, und die deutschen Kavaliere erwidern dem englischen Gentleman: »Ihr versteht euer fox hunting und steeple chase, aber enfin, ihr könnt nicht reiten.« Und ein stilles Bedenken mischt sich dabei von rechts und links her ein, daß dem diesseitigen perfekten Kavalier und dem jenseitigen perfekten Gentleman doch noch dies und das zu seiner Vollkommenheit fehle. Und wie mit der Kunst des Reitens, so mit der Kunst der feinen Sitte. Die Gesetze derselben sind überall verwandt, aber ihre Formen weichen voneinander ab. Da wo noch an eine ausschließliche Form der Gesellschaft geglaubt wird, hat die Gesellschaft selbst ihre höchste Blüte noch nicht erreicht.

In Standesvorurteilen, wie sie das Urteil über Goethe zeigt, war und blieb Marwitz befangen; aber er verfuhr auch hierin nach Überzeugung und stumpfte dadurch den Stachel der persönlich Verletzenden. Zudem hielt es nicht schwer, die Wurzel seines Irrtums zu erkennen. Während er nämlich sich selbst als Repräsentanten des Adels nahm, nahm er den ersten besten Bürgerlichen als Repräsentanten des Bürgerstandes. Der Zufall wollte, daß er in sich selbst einen so vollkommenen Vertreter adeliger Gesinnung zur Hand hatte, daß bei solchem Herausgreifen aufs Geratewohl der Bürgerliche mit einer Art von Notwendigkeit zu kurz kommen mußte. Er vergaß eben, daß nicht jeder Adelige ein Marwitz war, und daß viele Eigenschaften, die er an den »Gebildeten« haßte, nicht Sondereigenschaften des Bürgerstandes, sondern allgemeine Eigenschaften der ganzen Epoche waren. So geißelte er das Auftreten eines eitlen, leckern und gesinnungslosen Historikers, der damals in den Berliner Salons vergöttert wurde, mit verdientem Spott, aber andere bürgerliche Namen, die seines Beifalls würdig gewesen wären, hätten ihm ebenso nah oder vielleicht näher gelegen. Ich nenne nur Fichte. Statt dessen sah er mit Vorliebe auf die Kluft, die freilich zwischen seinem eigenen Empfinden und jener schnöden Niedrigkeit lag, die sich damals danach drängte, als »Bürgergardist« vor Marschall Viktor Schildwache zu stehen.

Ängstliche Rücksichtnahme war nicht seine Sache, wo es die Wahrheit oder wenigstens das galt, was ihm als Wahrheit erschien. Durch Freund und Feind hin ging er seinen Weg. Die Furcht anzustoßen, war nicht seine Furcht. Selbstbewußtsein durchdrang ihn und durfte es, denn die Worte seines Testaments, »daß er die ihm auferlegten Pflichten treulich erfüllt und dabei sein eigenes irdisches Wohlsein für nichts erachtet habe«, waren Worte der Wahrheit. Verkannt, zurückgesetzt, verleumdet, hatten die Kränkungen, davon er genugsam erfahren, doch niemals schwerer in seinem Herzen gewogen, als das Gefühl seiner Pflicht. Sooft es galt, war er da. Alles gab er auf, alles setzte er ein, sooft die großen Interessen des Vaterlandes auf dem Spiele standen. Das Einstehen für das Ganze war seinem Herzen Bedürfnis, und die höchsten Kräfte des Menschenherzens: Treue, Pietät und Opferfreudigkeit waren in seiner Seele lebendig. Er war schroff nach außen, aber feinfühlig im Gemüt. Das Leben, ungehoben und unverklärt durch geistigen Gehalt, war ihm eine leere Schale; die Idee allein gab allem Wert, und im Kampfe für sie hat er sein Leben hingebracht. Möglich, daß er in diesem Kampfe geirrt; es würde nichts ändern an der Wertschätzung, die seinem Streben gebührt. Denn jedem selbstsuchtslos geführten geistigen Kampfe gelten unsere Sympathien, und erst aus Streben und Irren gebiert sich die Wahrheit. Auch der Kampf, den Marwitz kämpfte, hat uns dieser näher geführt.

»Er war«, so schließt ein Nekrolog, den befreundete Hand geschrieben, »ein Mann von altrömischem Charakter, eine kräftige, gediegene Natur, ein Edelmann im besten Sinne des Worts, der in seiner Nähe nichts Unwürdiges duldete, allem Schlechten entschieden in den Weg trat, Recht und Wahrheit verteidigte gegen jedermann, der die Furcht nicht kannte und immer in den Reihen der Edelsten und Besten zu finden war. Alles Versteckte, Unklare und Erheuchelte war ihm von Herzen zuwider. Wie er streng war gegen sich selbst, war er es auch gegen andere. In Fleiß und guter Wirtschaft, in Frömmigkeit und strenger Sittlichkeit, in einem rechtschaffenen Wandel strebte er seiner Gemeinde ein Vorbild und Muster zu sein.«

An ernstem Streben, an Ringen nach der Wahrheit, an selbstsuchtsloser Vaterlandsliebe sei er Vorbild und Muster auch uns.




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 © textlog.de 2004 • 27.07.2024 04:02:22 •
Seite zuletzt aktualisiert: 11.10.2007 
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