Dem Dichter winkt Unsterblichkeit!
Während ich von Wien abwesend war, ist Herr Max Kalbeck sechzig Jahre alt geworden. Oder habe ich dieses Fest noch mitgemacht? In meinem Material finde ich einen Ausschnitt aus dem Neuen Wiener Tagblatt mit Versen, die Herr Eduard Pötzl nicht umhin konnte an den Gefeierten zu richten. Es ist fatal. Wenn man durch dieses Gedicht nicht wieder an all das erinnert würde, was Herr Kalbeck in den verflossenen sechzig Jahren geleistet hat, man würde sich fast bewogen fühlen, ihm die notwendige Ehrfurcht zu erweisen. Aber wer an der Schwelle des Greisenalters steht, soll sich vor allem selbst die Stiefel abputzen. Mit dem Respekt vor den Jahren ist’s eine eigene Sache. Wenn einer ein Greis wird, wollen wir ihn gern schonen, aber nur unter der Bedingung, dass wir ihm seine Jugend verzeihen und sein reiferes Mannesalter verübeln dürfen. Herr Pötzl nun, der auch nicht mehr zu den Jüngsten zählt und den trotzdem manchmal noch eine tolle Lust packt, miserable Verse zu machen, Herr Pötzl apostrophiert seinen Redaktionskollegen wie folgt:
Du Hüne lebst ein vierfach Leben
Als Kritiker, als Librettist,
Und zur Musik ist dir gegeben,
Dass du ein echter Dichter bist.
Darum sei es wünschenswert, dass Herr Kalbeck hundert Jahre alt werde. Gewiß; man bedenke aber, dass Herr Kalbeck in erster Linie Dichter ist. Dann erst Kritiker und infolgedessen Librettist. Da diese beiden Berufe in Wien zusammenfallen, so würden die vierzig Jahre fast ausschließlich der Lyrik gehören. Wenn Herr Kalbeck trotzdem nicht auskommen sollte, so meint Herr Pötzl sinnig:
Dem Dichter winkt Unsterblichkeit!
Herr Pötzl hat die Geste mißverstanden. Die Unsterblichkeit winkt Herrn Kalbeck ab. Seit Jahrzehnten macht er Annäherungsversuche. In den Konversationslexikons, in welche die Cliquen des Nachruhms ihre Nullen einschmuggeln dürfen — dieser besondere Betrug am deutschen Volk lohnte seine Enthüllung —, ist Herr Kalbeck ein größerer Dichter als Jean Paul und nimmt mehr Raum ein als Lawrence Sterne. Würden die Herren, wenn sie ihren Nachruhm erlebten, ihre Wunder erleben! Vierzig Jahre mögen diese Größen noch wirken, in zehn werden sie tot sein. Dieser Herr Kalbeck, der sich von Herrn Salten höchstens dadurch vorteilhaft unterscheidet, dass er ungeschickter ist, ein paar Bücher wirklich gelesen hat und in der deutschen Grammatik Bescheid weiß, wird in der Biographie Hugo Wolfs unter den Zeichen einer bösen Zeit auf die Nachwelt kommen und seinen Ehrenplatz behalten unter den Hindernissen der Entwicklung und unter den Plagen eines Künstlerlebens. Dass sich die musikalischen Vereine zu Kundgebungen für Herrn Kalbeck herbeiließen, beweist höchstens, dass Vereine die Kraft haben, mit den Resten von Geschmack, Anstand und Gesinnung, über welche Mitglieder verfügen mögen, aufzuräumen. Es ist ein Symptom des sozialen Lebens dieser Stadt, dass einer nur sechzig Jahre alt werden muß, damit zu seiner Ehre die ganze Unehrlichkeit aufgeboten wird, über die das soziale Leben dieser Stadt verfügt. Die Stellung des Publikums zur Persönlichkeit: man haßt und schweigt. Die Stellung des Publikums zur »bekannten Persönlichkeit«: man schimpft und gratuliert. Denn wer gratuliert, kommt in die Zeitung. Die Wände der geistigen Aborte sind immerzu mit Namen vollgeschmiert, Und das Neue Wiener Tagblatt unterscheidet sich von der Neuen Freien Presse nur dadurch, dass es auch zu den Geburtstagen seiner Redakteure die Ehrgeizigen zuläßt, während die Kollegin erst die Todestage ihrer Mitarbeiter zum Vorwand nimmt, ihre Hausmacht zu vergrößern. Seit Jahren tobt ein Wettstreit zwischen den Gratulanten des Herrn Singer und den Kondolenten des Herrn Benedikt. Jener verspricht seinen Redakteuren bei Lebzeiten die Nachwelt, ist aber nicht in der Lage, sein Versprechen zu halten. Dieser schweigt seine Leute aus Vornehmheit tot, und wenn sie es dann sind, wird er den Traditionen einer Zeitung gerecht, die sich seit jeher als ein wahres Nachweltblatt bewährt hat. Ein Feuilletonist der Neuen Freien Presse arbeitet für geringen Lohn und schlechte Behandlung, aber für die sichere Aussicht auf Unsterblichkeit. Dem Mitarbeiter des Neuen Wiener Tagblatts wird sie in trügerischen Reklamenotizen vorgespiegelt, aber der Chef, heißt es, zahlt besser und versteht es, durch urbane Umgangsformen auch die Gegner einer geistigen Bureauarbeit für sich gewinnen. Während Herr Benedikt durch sein eigenwilliges Temperament auch die Juden erbittert, soll es Herrn Singer gegeben sein, auch die Christen zu versöhnen, indem sich seine Kontrolle des redaktionellen Tuns und Lassens höchstens zu der Frage: Weiß ich? versteigt. Unter seiner schmunzelnden Ägide dürfen sie Gesellschaftsspiele einer gegenseitigen Belobung aufführen, die weit und breit duftet, während sie sich vor dem Eigenlob, auf das der Herausgeber der Fackel angewiesen ist, die Nase zuhalten müssen. Herr Singer ist ein Förderer philanthropischer Ideen und ein Schützer der redaktionellen Eintracht. Darum ist vor allem Herrn Kalbeck ein Adjutant zugeteilt, der so musikalisch ist, dass er ein gutes Gehör selbst für jene Reklamewünsche hat, die nicht ausgesprochen werden. Er besorgt monatlich einmal die Aufgabe, den Ruhm zwischen Brahms und Herrn Kalbeck so zu verteilen, dass diesem der Anteil zufällt, der in der Sprache der Löwys der Löwenanteil heißt. Zwischendurch interviewt er Herrn Richard Strauß, und da von solchem Gespräch nichts für Herrn Kalbeck abfallen kann, wird es so geführt, dass wenigstens Herr Pötzl etwas davon hat und dass der Komponist der Salome unversehens seine Leidenschaft für den Autor des Herrn Nigerl einbekennt. Herr Pötzl, der die Feuilletonrubrik wahrscheinlich gerade an dem Tage nicht redigiert, an dem die wertvolle Arbeit in Druck geht, ist natürlich beim Morgenkaffee hoch überrascht und beschließt aus Bescheidenheit, stets pünktlich ins Bureau zu kommen, damit nicht wieder ein belegtes Schmalzbrot durchrutschen kann. In anderen Rubriken vermag er natürlich nichts zu verhindern, und wie peinlich es ihm war, dass einmal der Vortrag eines Vereinsmeiers zitiert wurde, der ihn den bedeutendsten österreichischen Humoristen und ein »gottbegnadetes Talent« genannt hatte, das läßt sich nicht beschreiben. Herr Kalbeck ist »selbstredend« (wie sein Adjutant sagen würde) erst recht wehrlos. Er bespuckt ruhig in seinem Ressort den toten Hugo Wolf: kann er ahnen, dass der Nachbar inzwischen den lebenden Kalbeck bekränzt? Hier winkt dem Dichter Unsterblichkeit, daneben winkt er ihr, dort winken ihm die Gratulanten, und wo alles winkt, kann Herr Singer allein nicht wanken und breitet die Hände, die so gern zwischen Jacke und Weste geblieben wären, zum Segen: Kinder, lobts euch, ich bin der Präsident der internationalen Preßvereinigung, der euch herausgeführt hat aus dem Lande der Knechtschaft, nehmts euch die Druckerschwärze, schmierts das Publikum an, seids einig — nach zehn Jahren kräht ohnedies kein Hahn mehr nach euch!
Nr. 294/295, XI. Jahr
31. Januar 1910.