Der Komet in Wien


Der Wiener und die Unendlichkeit — das unwahrscheinliche Schauspiel wäre glücklich überstanden. Wenn der Komet gefährlich ist, so ist er es nicht so sehr vermöge der ihm innewohnenden Blausäure als wegen der nicht auszudenkenden Möglichkeit, dass sich bei seiner Annäherung jeder Trottel kosmisch gestimmt fühlt. Es ist nicht so weit gekommen. Nur eine fürchterliche Spielart kosmischer Denkfähigkeit wurde uns beschert: jene, die vor dem Untergang die Tröstungen der Wissenschaft empfängt. Der aufgeklärte Großstädter, dem nichts passieren kann, weil die Neue Freie Presse es mit der Sternwarte hält und die Vorsehung sich hüten wird, es mit der Neuen Freien Presse zu verderben; und der stolz ist, weil der Papst Kalixtus gegen den Kometen noch eine Bulle erlassen mußte, während heutzutag der Papst Benedikt mit einem Leitartikel denselben Effekt erzielt. Ach, die knierutschende Angst, die in früheren Jahrhunderten das Ende der Welt erwartete, war schlechter informiert, aber besser beraten, als die Zuversicht, die das Morgenblatt erwartet. Dieses erdensichere Gesindel wird eines Tages fürchterlich aufsitzen, wenn es den Kometen anulkt und inzwischen die Dummheit ihr Zerstörungswerk an der Welt vollendet hat. Der Ernst des Kometen wäre so trostlos nicht wie sein Humor. Denn wenn die Welt kaput geht, bleibt der Geist bestehen, aber wenn sie nicht kaput geht, bleibt die Dummheit bestehen, und ein ungefährlicher Komet macht das Übel schlimmer, da er jeden Friseur zum Philosophen und jeden Redakteur zum Humoristen macht. Nichts ist leichter, als vor dem Kometen Humor zu haben, denn je kleiner die Menschlichkeit, in desto größerer Kontrastwirkung erscheint er am Himmel, vorausgesetzt, dass er erscheint. Aber wenn auch die Sterne nicht lügen, so müssen darum die Astronomen nicht die Wahrheit sagen, und es hat sich herausgestellt, dass sie vom Kometen lange nicht so viel verstehen wie die Praterwirte, die bei seiner Erwartung besser abgeschnitten haben als jene bei seiner Erfüllung. Denn bis sich auf allgemeines Verlangen dieser Nebelstreif am Himmel zeigte, haben sie die Existenz des Kometen mit seiner Unsichtbarkeit bewiesen und den Durchgang aus der Feststellung, dass man ihn nicht beobachtet habe. Sie sagten, dass das, was wir nicht sahen, der Komet gewesen sei, und nur ihrer ehrenwörtlichen Versicherung glauben wir jetzt, dass das, was wir sehen, der Komet sei, weil wir ja schließlich keinen Grund haben, anständigen Leuten zu mißtrauen. Der religiöse Glaube sorgt auch für die Sinne. Was aber sind die Tröstungen einer Wissenschaft wert, die einen kahlen Himmel bietet? Er bewahrte uns vor Cyanwasserstoff; doch das vergeben ihm die Wiener nicht, dass er um ein Spektakel sie betrog. Der Komet ist ungefährlich; aber dass man auch die ganze Zeit nichts Verdächtiges bemerkt hat, untergräbt den Kredit der Wissenschaft und zerstört nur jenen Kometenaberglauben, unter dem man fortan den Aberglauben versteht, dass es Kometen gibt. Nun soll ja der Astronomie, die gewiß eine riegelsame Wissenschaft ist, nicht nahegetreten werden, aber sie hat sich diesmal schwer kompromittiert, weil sie sich den Hervorrufen eines fortschrittlichen Gafferpöbels eher und bereitwilliger zeigte als der Komet. Sie hat sich täglich mit den Reportern der Aufklärung eingelassen und sich damit auf ein Niveau begeben, auf dem sonst nur die Vertreter einer anderen Wissenschaft nach dubiosen Ehren auslugen, nämlich jener, die auf Wunsch der Nachtredaktion über einen hohen Patienten Ferndiagnosen stellt. Gewiß, sie haben eine Bevölkerung beruhigt, die bisher bloß gewohnt war, auf ein Dach hinaufzuschauen, während sich jetzt die Verkehrshindernisse auch durch die Betrachtung des Firmaments ergaben. Aber sie haben diese Bevölkerung zugleich enttäuscht und die Aufgeklärtheit, zu der sie ihr täglich zweimal verhalfen, in Nihilismus verwandelt. Sie sollten aus Schamgefühl die Sternwarte zusperren, wenn sie heute den Satz im Kometenbericht lesen: »An einem Tische wird der Artikel des Hofrates Weiß, der im heutigen Abendblatt der Neuen Freien Presse erschienen ist, verlesen. Die Stelle, welche den Anblick für die nächsten Abende in sichere Aussicht stellt, findet bei dem Publikum lebhaftesten Beifall«. Halley hatte es auf diesen Beifall nicht abgesehen, und dennoch gelang es ihm, den Kometen zu einer Produktion zu gewinnen. Unsere Welttheateragenten aber dachten an das Publikum, und als es wie die Buben auf der Galerie einer italienischen Schmiere zu stampfen begann, kamen sie immer wieder heraus und beruhigten es mit Versicherungen von eingetretenen Hindernissen, Wolkenvorhang, Kostümwechsel, Unpäßlichkeit und was dergleichen Ausreden mehr sind, die aufgeregte Impresarios stets bei der Hand haben, wenn die Laune eines Stars sie blamiert hat. »Nach Sonnenuntergang war der westliche Himmel in Dunst gehüllt. Es ist dagegen zu erwarten, dass der Komet morgen Samstag abends endlich am Wiener Himmel erscheinen werde. Das Publikum möge nicht ungeduldig werden und noch einen Tag zu warten — schließlich wird der Halleysche Komet in aller Pracht erscheinen«. Er erschien nicht; nicht Samstag, nicht »heute und die folgenden Tage«. Aber den Dunst, den man einem Publikum vorgemacht hat, auf den Himmel schieben, ist eines Astronomen unwürdig, vorausgesetzt, dass er nicht darauf spekuliert, das Geschäft jenes Impresarios zu übernehmen, der sich kürzlich in Wien aus unglücklicher Liebe zu einem Stern zweiter Größe umgebracht hat. Dass den Herren der Komet zwischen der Sonne und der Erde durchgegangen war, ist ja gewiß tragisch, aber wenn sie nicht so heftig mit der kosmischen Pünktlichkeit geprotzt hätten, hätte ihnen niemand aus der kosmischen Unordnung einen Vorwurf gemacht. Auch die Südbahn wird ja nur deshalb getadelt, weil sie so unvorsichtig ist, einen Fahrplan herauszugeben. Und so ist es gekommen, dass nicht nur die Welt im allgemeinen nicht zugrundegegangen ist, sondern insbesondere nicht das Wirtsgeschäft auf dem Kahlenberg. Wien hat ein gastronomisches Ereignis zu verzeichnen. Wäre die Welt untergegangen, dann hätten nur die Fiaker profitiert, weil sie sich für berechtigt gehalten hätten, den ihnen gebührenden Betrag mit der Begründung zurückzuweisen: »Aber Euer Gnaden, an so an Tag!« So aber bleibt alles beim Alten. Der Wiener, dem Basiliskenblick der Ewigkeit entronnen, hat zum Hausmeister zurückgefunden. Die Zehnuhrsperre dieser kleinen Welt läßt sich ertragen.

 

 

Mai, 1910.


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