Zehntes Kapitel.
[Tugend, Gewöhnung, Gesetze und
die Kunst der Gesetzgebung]


Wir haben also nunmehr hierüber und über die Tugenden, sowie auch über die Freundschaft und die Lust das Nötige im Umrisse beigebracht. Sind wir demnach jetzt mit unserem Vorhaben am Ziele, oder ist nicht der Satz richtig, dass beim Handeln das Ziel nicht darin liegt, das einzelne zu erforschen und zu erkennen, sondern vielmehr darin, es zu tun? (1179b) So ist es denn auch bei der Tugend mit dem Wissen nicht genug, sondern man muß darnach streben, sie zu haben und zu üben oder sonst den Weg einzuschlagen, auf dem wir gute Menschen werden können.

Wären nun Reden hinreichend, um vortreffliche Menschen zu bilden, so würden sie nach Theognis vielen und großen Lohn einbringen, und man müßte sie sich verschaffen. Nun aber scheints können dieselben zwar für Jünglinge von edeler Gemütsart ein Sporn und Antrieb werden und einen vornehmen und wahrhaft für das Schöne eingenommenen Charakter an die Tugend fesseln, aber sie vermögen nicht die Menge für das Schöne und Gute zu gewinnen. Denn die Menge läßt sich ihrer Natur gemäß nicht durch sittliche Scheu, sondern durch die Furcht bestimmen und enthält sich des Schlechten, nicht weil es schimpflich ist, sondern weil darauf Strafe steht. Da sie der Leidenschaft nachlebt, trachtet sie nach den ihrem Geschmack entsprechenden Genüssen und nach dem, was dieselben verschaffen kann, und flieht die entgegengesetzten Arten der Unlust. Von dem sittlich Schönen aber und der wahren Freude hat sie nicht einmal einen Begriff, da sie es nicht gekostet hat. Welche Rede sollte nun solche Menschen bekehren? Es ist ja nicht möglich oder doch sehr schwer, durch das Wort alt eingewurzelte Gewohnheiten abzustellen. Wir müssen also wohl zufrieden sein, wenn wir beim Vorhandensein alles dessen, wodurch wir nach allgemeiner Ansicht sittliche Menschen werden, die Tugend erlangen.

Tugendhaft wird man aber nach einer Meinung von Natur, nach einer anderen durch Gewöhnung und nach einer dritten durch Lehre. Als Naturanlage steht die Tugend offenbar nicht bei uns, sondern ist dank gewissen göttlichen Ursachen das Teil der wahrhaft Glücklichen. Wort und Lehre aber haben nicht bei Allen hinlängliche Kraft, sondern die Seele des Hörers muß wie die zur Aufnahme des Samens bestimmte Erde durch Gewöhnung vorbereitet sein, um recht zu lieben und zu hassen. Denn es würde einer auf das warnende Wort nicht hören, ja, es nicht einmal verstehen, wenn er der Leidenschaft nachlebt; und wie ist es dann möglich, ihn durch Worte anderen Sinnes zu machen? Überhaupt kann man sagen, dass gegen die Leidenschaft das Wort nichts ausrichtet, sondern nur die Gewalt. Demnach muß ein der Tugend verwandter Sinn, der das sittlich Schöne liebt und das Häßliche verabscheut, schon in gewisser Weise vorhanden sein.

Nun ist es aber schwer, von Jugend auf die rechte sittliche Anleitung zu erhalten, wenn man nicht unter entsprechenden Gesetzen erzogen wird. Denn mäßig und abgehärtet zu leben, ist nicht nach dem Geschmack der Menge, und am wenigsten nach dem Geschmack der Jugend. Daher muß deren Erziehung und Beschäftigung durch Gesetze geregelt werden. Denn was einem zur Gewohnheit geworden ist, macht einem hernach keine Beschwerde mehr.

(1180a) Vielleicht genügt es aber nicht, in der Jugend die rechte Zucht und Sorge zu erfahren, sondern da man auch als Mann die guten Gewohnheiten und Bestrebungen beibehalten muß, so werden wir auch hiefür und somit überhaupt für das ganze Leben der Gesetze bedürfen. Denn in der Mehrzahl fügen sich die Menschen mehr dem Zwange als dem Worte und mehr der Strafe als dem Gebot der Pflicht. Ebendarum sind auch einige der Ansicht, die Gesetzgeber müßten zwar durch Berufung auf den Wert des Guten zur Tugend ermahnen und antreiben, da dieses Motiv bei denen, die durch Gewöhnung schon zum Guten geneigt wären, seine Wirkung nicht verfehlen werde; allein den Ungehorsamen und den gemeineren Naturen müßten sie Züchtigungen und andere Strafen auferlegen und die Unheilbaren gänzlich beseitigen. Denn der sittliche Mensch, der für das Edele lebe, werde dem Worte gehorchen, der unsittliche aber, der nach der Lust trachte, werde durch Schmerz gebändigt, wie ein Tier im Joch. Daher verlangt man auch eine solche Beschaffenheit der Strafen, dass sie der Lust, die einer liebt, am meisten entgegengesetzt sind.

Wenn aber nun wie gesagt wer tugendhaft werden soll, gut erzogen und gewöhnt sein und sodann edlen Bestrebungen leben muß und schlechtes weder unfreiwillig noch freiwillig tun darf, so dürfte das wohl in der Weise ermöglicht werden, dass man nach einer gewissen Vernunft und rechten Ordnung lebt, der zugleich nötigende Kraft beiwohnt. Der väterlichen Anordnung steht Gewalt und Zwang in solcher Weise nicht zu und überhaupt nicht dem Willen eines einzelnen Menschen, wenn er nicht König ist oder sonst eine ähnliche Stellung einnimmt. Dagegen hat das Gesetz zwingende Kraft und ist zugleich eine Rede, die von einer Einsicht und Vernunft ausgeht. Und, auf Menschen, die unsern Neigungen entgegentreten, wirft man, auch wenn sie Recht daran tun, einen Haß; das Gesetz dagegen, wenn es das Rechte befiehlt, ist keinem Hasse ausgesetzt.

Nun hat aber wohl nur im Staate der Lazedämonier und in wenigen anderen der Gesetzgeber für die Erziehung und Lehre der Staatsangehörigen Sorge getragen; in den meisten Staaten dagegen ist dieser Punkt ganz außer acht geblieben, und jeder lebt, wie er will, und richtet nach Zyklopenweise über Weib und Kind. Das Beste wäre demnach, wenn eine richtige Fürsorge vom Staate ausginge und verwirklicht werden könnte. Wo aber der Staat sich darum nicht bekümmert, da liegt es dem Einzelnen ob, seinen Kindern und Freunden zur Erwerbung der Tugend behilflich zu sein oder dies sich doch zum Zweck zu setzen. Nach dem Gesagten wird man das aber dann am besten vermögen, wenn man sich die Fähigkeit erwirbt, Gesetze zu geben.

Denn, die Fürsorge für das gemeine Wesen vollzieht sich bekanntlich durch Gesetze, gute Fürsorge aber durch die guten Gesetze. (1180b) Ob dieselben aber geschrieben oder ungeschrieben sind, kann keinen Unterschied machen, auch nicht, ob einer oder viele nach ihnen erzogen werden sollen, ebensowenig wie das in der Musik, der Gymnastik und den anderen Fächern einen Unterschied macht. Denn wie in den Staatsgemeinden Gesetz und Herkommen, so machen in Haus und Familie das Wort des Vaters und die von ihm eingeführten Gewohnheiten ihren Einfluß geltend, ja, sie tun es noch in höherem Grade, weil der Vater mit den Kindern verwandt und ihr Wohltäter ist. Denn so haben ihn die Kinder von vornherein von Natur lieb und folgen ihm gern.

Ferner, die Einzelerziehung ist von der gemeinsamen verschieden, wie dieser Unterschied des Besonderen und des Allgemeinen ja auch in der Heilkunst hervortritt. Dem Fieberkranken ist im allgemeinen Ruhe und Fasten zuträglich, in einem einzelnen Falle aber vielleicht nicht; auch der Lehrer im Faustkampf hält nicht alle zu den nämlichen Übungen an. Darum dürfte das einzelne sorgfältiger behandelt werden, wenn ihm eine eigene Fürsorge zu teil wird: dann erhält der einzelne eher was ihm frommt. Jedoch wird die Sorge für das einzelne beim Arzt, beim Fechtmeister und dem Vertreter jedes anderen Faches am vollkommensten sein, wenn er das Allgemeine kennt, und weiß, was sich für alle oder eine bestimmte Klasse gehört. Denn als Gegenstand der Wissenschaften gilt das Allgemeine, und das ist es auch. Es mag ja gewiß nichts hindern, dass man einen einzelnen Fall auch ohne Wissenschaft richtig behandelt, wenn man nur durch Erfahrung genau darüber unterrichtet ist, was sich in einem Einzelfalle begibt. So ist vielleicht mancher für sich selbst ein sehr guter Arzt, der einem anderen durchaus nicht helfen kann. Nichtsdestoweniger muß wer ein Künstler werden und die Theorie einer Kunst sich aneignen will, auf das Allgemeine gehen und dasselbe nach Möglichkeit zu erkennen suchen. Denn dieses ist es wie gesagt, womit Kunst und Wissenschaft es zu tun hat. Und so muß wohl auch wer durch seine Fürsorge die Menschen bessern will, gleichgültig ob viele oder wenige, nach der Befähigung trachten, Gesetze zu geben, falls wir durch Gesetze tugendhaft werden können. Denn jeden beliebigen und jeden, der uns unter die Hand kommt, in die richtige Verfassung zu bringen, das vermag nicht der nächste Beste, sondern, wenn irgendeiner, der Wissende, wie man an der Heilkunst und an allen anderen Dingen sieht, mit denen menschliche Sorge und Klugheit sich beschäftigt.

Haben wir also nach diesem zu untersuchen, wie und woher man sich die Eigenschaften eines Gesetzgebers verschafft, oder lernt man dieselben etwa nach der Analogie auf anderen Gebieten von den Staatsmännern? Die Kunst des Gesetzgebers ist ja, wie wir gesehen haben, ein Teil der Staatskunst. Oder sollte es sich mit der Staatskunst etwa doch nicht in gleicher Weise verhalten wie mit den anderen Wissenschaften und Künsten? Sonst sehen wir ja überall dieselben Männer eine Kunst lehren und ausüben, wie z. B. die Ärzte und Maler. Was dagegen die Staatskunst betrifft, so machen die Sophisten sich anheischig, sie zu lehren, (1181a) aber keiner von ihnen übt sie aus, sondern das tun die mit den Staatsgeschäften Befaßten, von denen man aber wieder sagen möchte, dass sie mehr gestützt auf Erfahrung und eine gewisse Routine ihres Amtes walten als geleitet von wissenschaftlicher Einsicht. Denn man sieht weder, dass sie über Politik schreiben, noch dass sie über dieselbe Vorträge halten – und doch wäre das vielleicht mehr wert, als wenn sie vor Gericht und in Volksversammlungen sprechen –, und ebensowenig sieht man, dass sie ihre Söhne oder sonst einen, den sie lieb haben, zu Staatsmännern ausgebildet hätten. Und doch hätten sie es gewiß getan, wenn sie dazu im stande wären. Denn sie könnten ihrem Vaterlande kein besseres Geschenk hinterlassen, und würden gewiß auch sich selber und so denn auch ihren besten Freunden keine andere Kunst mehr als diese wünschen. Dabei muß freilich eingeräumt werden, dass die Erfahrung auf dem Gebiete der Staatskunst von großer Wichtigkeit ist, sonst könnte die politische Praxis keine Staatsmänner bilden, und darum ist derjenige, der in der Staatskunst gut Bescheid wissen will, auch auf die Erfahrung angewiesen.

Was aber diejenigen Sophisten betrifft, die sich anheischig machen, die Staatskunst zu lehren, so sind sie offenbar weit davon entfernt, dies wirklich zu leisten. Sie wissen ja gar nicht einmal, was sie ist und womit sie es zu tun hat. Sonst sagten sie nicht, sie sei dasselbe wie die Rhetorik oder ihr untergeordnet, und meinten nicht, es sei leicht Gesetze zu geben, wenn man nur diejenigen Bestimmungen, die sich allgemeinen Beifalls erfreuen, zusammenstelle. Sie halten es nämlich für eine leichte Sache, die besten außuwählen, als ob nicht grade eine solche Auswahl Verstand erforderte, und das richtige Urteil die Hauptsache wäre, wie bei einer musikalischen Komposition. Nur der mit den Einzelheiten durch Erfahrung Vertraute kann Kunstleistungen richtig beurteilen und weiß, durch welche Mittel und auf welchem Wege sie zustande kommen, und was gegenseitig zusammenstimmt. Der Unerfahrene dagegen ist schon zufrieden, wenn ihm nur nicht entgeht, ob eine Leistung gut oder schlecht geraten ist, wie in der Malerei. Nun sind aber die Gesetze gleichsam die Leistungen der Staatskunst. (1181b) Wie soll man also durch bloße Kenntnisnahme von ihnen zur Gesetzgebung befähigt werden können, oder wie soll man die besten herausfinden? Man sieht doch auch nicht, dass man bloß aus Büchern ein Arzt wird. Gleichwohl suchen die medizinischen Schriftsteller nicht bloß die Heilmittel anzugeben, sondern auch das Heilverfahren, das man beobachten und die Behandlung, die man den einzelnen Patienten mit Rücksicht auf ihre besondere Konstitution angedeihen lassen muß. Eine solche Anleitung mag zwar für die Erfahrenen ihren Nutzen haben, aber dem Laien kann sie nichts helfen. So werden wohl auch die Sammlungen der verschiedenen Gesetze und Verfassungen denjenigen gut zu statten kommen, die untersuchen und entscheiden können, was daran gut ist und was nicht, und was zusammenpaßt. Diejenigen aber, die ohne die erforderliche, nur durch Erfahrung mögliche Routine solche Sammlungen durchgehen, werden nicht richtig über sie zu urteilen vermögen, außer etwa zufällig. Nur ein besseres Verständnis auf diesem Gebiete läßt sich vielleicht auf diese Weise gewinnen.

Da also unsere Vorgänger die Theorie der Gesetzgebung unerforscht gelassen haben, so empfiehlt es sich, dass wir selbst die Untersuchung über sie und so denn über die Staatslehre überhaupt weiter verfolgen und so die Philosophie der menschlichen Dinge nach dem Maße unserer Kräfte zu Ende führen.

Zuerst wollen wir versuchen, zu bestimmen, was die Älteren hin und wieder Richtiges über unseren Gegenstand gelehrt haben, und sodann, aus der Zusammenstellung der verschiedenen Verfassungen zu entnehmen, was die Staaten und was die einzelnen Staatsformen erhält und was sie verdirbt, und aus welchen Ursachen einige Gemeinwesen sich in gutem, andere in schlechtem Zustande befinden. Denn haben wir diese Punkte untersucht, so können wir gewiß leichter darüber ins klare kommen, welches die beste Verfassung ist, und wie sie jedesmal geordnet sein und welche Gesetze und Bräuche sie haben müßte.

So wollen wir denn mit dieser weiteren Darlegung beginnen.


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