Zweites Kapitel.
[Darlegung und Erörterung der Gründe für die
bestehenden Ansichten]
Eudoxus meinte, die Lust sei das Gute, weil man alles, Vernunftbegabtes und Vernunftloses, nach ihr streben sehe. In allen Dingen aber sei das Begehrte gut und das am meisten Begehrte am besten. So beweise denn die Erscheinung, dass alles zu dem Einen und Selben hingezogen wird, dass dieses für alle das Beste sei. Wie nämlich jedes Wesen seine Nahrung zu finden wisse, so auch was ihm gut sei. So müsse denn was allen gut sei und wonach alles strebe, das Gute schlechthin sein. Diese Lehren fanden aber ihrer Zeit mehr Glauben wegen des tugendhaften Charakters des Eudoxus als um ihrer selbst willen. Denn er galt für einen Mann von nicht gewöhnlicher Mäßigkeit, und so bekam man denn den Eindruck, dass er nicht als Freund der Lust solches lehre, sondern dass es sich wirklich so verhalte. Die Richtigkeit seines Satzes sollte ihm zufolge nicht minder deutlich aus dem Gegenteil der Lust erkannt werden können. Die Unlust nämlich gelte allen an sich als etwas, was man fliehen müsse; demnach müsse das Gegenteil von ihr an sich begehrenswert sein. Am meisten aber sei begehrenswert was wir nicht mit Rücksicht auf ein anderes oder um eines anderen willen begehren. Das sei aber eingestandenermaßen das unterscheidende Merkmal der Lust. Niemand frage, zu welchem Zwecke man sich freuen wolle, und darin spreche sich die Tatsache aus, dass die Freude und die Lust an sich begehrenswert ist. Auch mache sie als Zugabe zu jedwedem Gute, wie zur Übung der Gerechtigkeit oder der Mäßigkeit, dasselbe noch begehrenswerter; nun wachse aber das Gute nur durch sich selbst.
Aber dieses letzte Argument möchte doch wohl lediglich dartun, dass die Lust ein Gut neben anderen ist, nicht mehr als sonst eines. Jedes Gut ist in Verbindung mit einem anderen begehrenswerter als für sich allein. Das ist das Argument, mit dem Plato umgekehrt erweisen will, dass die Lust nicht das Gute ist. Das lustvolle Leben, sagt er, sei im Verein mit Klugheit begehrenswerter als ohne Klugheit; wenn aber das Vereinte besser sei, so sei die Lust nicht das Gute. Denn das Gute an sich könne durch keinerlei Zusatz begehrenswerter werden. Allein man sieht, dass so auch sonst nichts das Gute wäre, was zusammen mit etwas an sich Gutem begehrenswerter wird. Was wäre denn also ein solches Gute, woran auch wir teil haben könnten? Um ein solches fragt es sich doch.
Die aber den Satz, gut sei wonach alles strebt, beanstanden wollen, dürften damit leicht eine Meinung zu vertreten scheinen, mit der sich kein gesunder Sinn verbinden läßt. (1173a) Was alle glauben, das, behaupten wir, ist wahr. Wer diesen übereinstimmenden Glauben der Menschheit verwirft, wird schwerlich glaubwürdigeres zu sagen wissen. Wären es bloß die vernunftlosen Wesen, die nach dem Lustbringenden Verlangen trügen, so möchte vielleicht an jener Meinung etwas sein, nun es aber auch die vernunftbegabten sind, wie könnte sie da einen Sinn haben? Vielleicht ist aber auch in schlechten Individuen noch ein natürlich Gutes, besser als sie selbst, was nach dem eigentümlichen Gute begehrt. Aber auch das scheint verfehlt, was man wohl zu dem Argumente aus dem Gegenteil der Lust bemerkt. Man sagt nämlich: wenn die Unlust ein Übel ist, so folgt nicht, dass die Lust ein Gut ist. Es könne ja auch einem Übel ein Übel entgegengesetzt sein, und beide, Gutes und Schlimmes, einem Dritten, das keines von beidem sei. Diese Bemerkung ist an sich nicht unrichtig, aber doch in unserem Falle verfehlt. Wären beide schlecht, so wären notwendig auch beide zu fliehen; wäre es keins von beiden, so wären auch beide nicht zu fliehen, oder man müßte sich gegen beide gleichmäßig verhalten. Nun aber sieht man, wie die Menschen das eine als ein Übel fliehen und das andere als ein Gut begehren. Also ist sich auch beides so entgegengesetzt.
Auch wenn die Lust kein Qualitatives ist, folgt daraus nicht, dass sie kein Gut ist. Auch die tugendgemäßen Tätigkeiten und die Glückseligkeit sind ja keine Qualitäten.
Man sagt ferner, das Gute sei bestimmt, die Lust aber sei unbestimmt, weil sie ein Mehr und Minder zuläßt. Aber wenn man auf Grund des Fühlens der Lust so urteilt, so wird ein gleiches von der Gerechtigkeit und den anderen Tugenden gelten müssen, wo man unbedenklich sagt, dass die Inhaber tugendhafter Eigenschaften das mehr und minder sind. Denn es gibt solche, die in höherem Grade gerecht und mutig sind; und auch gerecht handeln und mäßig sein kann man mehr und weniger. Ist aber das Mehr oder Minder in den Lüsten gemeint, so trifft man wohl den eigentlichen Grund der Sache nicht, wenn es wahr ist, dass die Lüste teils gemischt teils ungemischt sind. Denn weshalb soll es nicht mit der Lust sein können wie mit der Gesundheit, die ja ebenfalls zwar bestimmt ist, aber doch ein Mehr und Minder zuläßt? Das Gleichmaß, worauf sie beruht, ist nicht in allem ein und dasselbe, auch nicht bei einem immer das gleiche, sondern es kann bis zu einem bestimmten Grade nachlassen, unbeschadet seines Fortbestandes, und gestattet so verschiedene Grade. So kann es also auch mit den verschiedenen Graden der Lust sein.
Weiterhin sagt man, das Gute sei vollendet, die Bewegung und das Werden aber unvollendet, und sucht zu zeigen, dass die Lust Bewegung und Werden ist. – Aber schon das scheint verfehlt, dass die Lust Bewegung sein soll. Jeder Bewegung ist Schnelligkeit und Langsamkeit eigen, wenn auch nicht im Vergleich mit sich selbst, so doch im Verhältnis zu einem anderen, wie man an der Himmelsbewegung sieht. Bei der Lust aber findet sich keines von beiden, keine Schnelligkeit und keine Langsamkeit. (1173b) Ja, bekommen kann man das Gefühl der Lust schnell, wie auch das des Zorns, aber haben kann man es nicht schnell, auch nicht im Vergleich mit einem anderen, wohl aber kann man schnell gehen, wachsen und dergleichen. Also der Übergang zur Lust kann schnell und langsam zustande kommen, aber schnell aktuell sein in bezug auf die Lust, will sagen, schnell Lust fühlen, das kann man nicht. Und wie sollte sie weiter ein Werden sein? Es wird oder entsteht doch nicht unterschiedslos jedes aus jedem, sondern jedes löst sich in das auf, woraus es wird. So müßte auch, wenn die Lust das Werden einer Sache ist, das Vergehen derselben Sache die Unlust sein. Man sagt nun, die Unlust sei der Mangel einer Sache, die von der Natur gefordert wird, und die Lust der Ausgleich dieses Mangels. Aber solche Dinge wie Mangel und Ausgleich sind körperlicher Art. Wenn also die Lust der von der Natur geforderte Ausgleich ist, so muß das, was den Ausgleich erfährt, der Körper also, Lust fühlen, und das wird man schwerlich annehmen. Mithin ist die Lust kein Ausgleich, sondern sie stellt sich nur gelegentlich eines solchen ein, wie auch die Unlust aus Anlaß des Gegenteils, z. B. wenn man sich schneidet, ausgelöst wird. Diese Meinung ist wohl hauptsächlich durch das Gefühl der Unlust und Lust veranlaßt, das sich auf die Ernährung bezieht. Man beruft sich darauf, dass man zuerst ein Bedürfnis verspürt und Unlust fühlt und hernach über die Stillung des Bedürfnisses Lust fühlt. Allein das trifft nicht bei allen Arten der Lust zu. Der Lust am Studium z. B. geht keine Unlust voraus, der sinnlichen Lust, die auf dem Geruch beruht, auch keine, und das gleiche gilt von so vielem, was man hört und sieht, und so manchen Erinnerungen und Hoffnungen. Wovon also sollten diese Genüsse ein Werden sein? Es ging ja kein Mangel voraus, den sie ausgleichen könnten.
Wenn man sich endlich auf die schimpflichen Lüste beruft, so kann man antworten, dass sie keine Lust sind. Sind sie für Menschen von schlechter sittlichen Verfassung eine Lust, so darf man darum nicht meinen, dass sie es auch noch für andere als jene sind, wie ja auch was den Kranken zuträglich ist oder süß oder bitter vorkommt, das darum noch nicht an sich ist, oder was den Augenkranken weiß erscheint, darum noch nicht weiß ist. – Oder man kann auch antworten, dass zwar die Lüste begehrenswert sind, aber nicht, wenn sie aus solchen Quellen fließen, wie es auch gut ist, reich zu sein, aber nicht für den, der Verrat geübt hat, und gut ist, gesund zu sein, aber nicht für den, der alles durcheinander gegessen hat. – Oder man kann sagen, dass die Lüste der Art nach verschieden sind. Diejenigen, die aus sittlich reinen Quellen fließen, sind anders als diejenigen, die aus unreinen Quellen geschöpft sind, und jener Lust und jenes Genusses, dessen sich der Gerechte, der Gebildete oder der Inhaber sonstiger Vorzüge erfreuen kann, ist man nicht fähig, ohne gerecht, gebildet und so weiter zu sein.
Auch der Freund im Unterschied von dem Schmeichler scheint einen Beweis dafür zu liefern, dass die Lust nichts gutes ist oder es ihrer verschiedene Arten gibt. Der Verkehr des Freundes mit uns scheint auf das Gute abzuzielen, der des Schmeichlers auf die Lust, und diesen tadelt man, jenem spendet man wegen der Verschiedenheit seiner Absicht Lob. – (1174a) Auch möchte niemand leben, wenn er immer nur den Verstand eines Kindes haben und alles was den Kindern Freude macht im höchsten Maße genießen sollte; und niemand möchte eine Freude haben um den Preis einer sehr schimpflichen Handlung, auch wenn ihm aus derselben niemals eine Unlust erwachsen sollte. – Auch liegt uns manches sehr am Herzen, das für uns keine Lust im Gefolge hat, wie Sehen, Gedenken, Wissen, Tugenden Haben. Führen diese Dinge notwendig einen Genuß und eine Befriedigung mit sich, so trägt das nichts aus. Denn wir würden sie auch dann begehren, wenn keine Lust aus ihnen flösse.
So könnte es also erwiesen scheinen, dass die Lust weder ein Gut, noch jede Lust begehrenswert ist, und dass einige Lüste an sich begehrenswert sind, die sich von den anderen der Art oder dem Ursprung nach unterschieden.
Dies möge bezüglich der über Lust und Unlust bestehenden Meinungen genügen.