Sechstes Kapitel.
[Freundschaft sowohl als Habitus wie als Actus zu betrachten]


(1157b) Da die Freundschaft in diese Arten zerfällt, so werden schlechte Menschen der Lust oder des Nutzens wegen Freunde sein, da sie in dem Streben nach diesen Dingen sich gleich sind, gute aber ihrer selbst wegen, da sie eben als gute Menschen sich lieben. Daher sind sie schlechthin Freunde, jene dagegen mitfolgend und wegen der Ähnlichkeit mit ihnen. Wie aber mit Rücksicht auf die Tugenden die einen habituell, die anderen aktuell gut sind, so ist es auch bei der Freundschaft. Wenn die Freunde zusammen leben, so erfreuen sie sich an einander und tun sich gutes, wenn sie aber schlafen oder räumlich getrennt sind, so betätigen sie zwar ihre Freundschaft nicht, behalten aber den entsprechenden Habitus. Denn die örtliche Trennung hebt nicht die Freundschaft, sondern ihre Betätigung auf. Dauert aber die Trennung lange, so mag sie auch die Freundschaft in Vergessenheit bringen, daher der Ausspruch:

 

»Oft schon hat die Freundschaft der Mangel an Umgang gelockert.«

 

Auch ältliche Leute und mürrische Gemüter erscheinen als wenig zur Freundschaft geeignet. Denn bei ihnen ist wenig Vergnügen zu holen, und niemand kann es lange bei einem unangenehmen oder auch nur nicht angenehmen Menschen aushalten. Was aber die Natur am meisten flieht, ist ja die Unlust, und was sie am meisten begehrt, die Lust. Das Verhalten derer aber, die aneinander Geschmack finden, aber doch nicht zusammenleben, hat eher den Charakter des Wohlwollens als der Freundschaft. Denn nichts ist Freunden so eigen als das Zusammenleben. Nach dem Nutzen der Freundschaft trachtet der Dürftige, nach dem Zusammenweilen auch der vom Glück Begünstigte, da es für ihn am wenigsten paßt, allein zu stehen. Tägliche Lebensgemeinschaft aber ist nur möglich unter Menschen, die einander angenehm sind und an denselben Dingen Freude haben, und das findet sich in der Freundschaft derer, die zusammen aufgewachsen sind.


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