Neuntes Kapitel.
[Gleichheit bei Überlegenheit]


Mit der Gleichheit hat es aber nicht dieselbe Bewandtnis im Recht und in der Freundschaft. Im Recht steht die Gleichheit nach der Würdigkeit zuerst, und die quantitative Gleichheit folgt auf sie. Dagegen in der Freundschaft steht die quantitative Gleichheit zuerst, und die nach der Würdigkeit folgt auf sie. Man sieht das deutlich, wenn unter verschiedenen Personen ein großer Abstand bezüglich der Tugend oder Schlechtigkeit, des Wohlstandes oder sonst einer Sache herrscht: da ist man nicht mehr Freund und beansprucht es auch nicht. Am klarsten aber sieht man es an den Göttern, die uns an allen Gütern so sehr überlegen sind. (1159a) Aber auch an den Königen sieht man es; auch ihre Freundschaft sucht nicht, wer tief unter ihnen steht, so wenig wie minderwertige Leute die Freundschaft der Besten und Weisesten beanspruchen.

Eine genaue Bestimmung, wie weit der Unterschied gehen darf, um noch für eine Freundschaft Raum zu lassen, ist freilich nicht möglich: sie kann sich behaupten, wenn ein Teil auch vieles verliert; ist aber der Abstand sehr groß, wie bei Gott, so kann keine Freundschaft mehr sein. Man wirft darum auch die Frage auf, ob nicht etwa Freunde den Freunden die allergrößten Güter mißgönnen, das Glück und die Ehre z. B., unter die Götter versetzt zu werden. Sie wären dann ja ihre Freunde nicht mehr und also auch kein Gut mehr für sie, was der Freund doch ist. Die Lösung ist diese: wenn die Bestimmung, dass der Freund dem Freund Gutes um des Freundes willen wünscht, richtig getroffen ist, so liegt ihr die Voraussetzung zugrunde, dass der Geliebte auf alle Fälle bleibt, wer er ist, und so wünscht man ihm als Menschen die größten Güter; aber nicht alle vielleicht, da jedermann vor allem sich selbst Gutes wünscht.

In der Regel will man offenbar aus Ehrgeiz mehr geliebt sein als lieben und ist daher der Schmeichelei zugänglich. Denn der Schmeichler ist ein Freund, der einem untergeordnet ist oder sich so stellt, als ob er es wäre, und als ob er uns mehr liebte als wir ihn. Das Geliebtwerden scheint aber dem Geehrtwerden verwandt zu sein, und das letztere ist es ja, wonach die meisten trachten. Doch scheint man die Ehre nicht an sich, sondern mitfolgend zu begehren. In der Regel freut man sich an der Ehre, die man von Hochgestellten empfängt, aus Hoffnung, da man meint, man werde, wenn man etwas bedarf, es von ihnen erlangen, und so erfreut einen die Ehre als eine Gewähr späterer Wohltat. Diejenigen hinwieder, die nach der Ehre von Seiten tugendhafter und urteilsfähiger Personen verlangen, haben dabei den Wunsch, in ihrer eigenen Meinung von sich bestärkt zu werden, und so freut es sie, dass sie tugendhaft sind, indem sie dem Urteile derer, die es sagen, vertrauen. Dagegen an der Liebe, die man erfährt, erfreut man sich um ihrer selbst willen, und so sieht man denn, dass sie besser ist als die Ehre, die man empfängt, und dass die Freundschaft an sich begehrenswert ist.

Sie liegt aber mehr im Lieben als im Geliebtwerden. Das zeigen die Mütter, deren Freude es ist, zu lieben. Manche Mütter lassen ihre Kinder von anderen ernähren und schenken ihnen bewußte Liebe, verlangen aber keine Gegenliebe, wenn beides zusammen nicht sein kann, sondern halten sich schon für glücklich, wenn sie nur sehen, dass es ihren Kindern gut geht, und sie haben sie lieb, auch wenn diese aus Unwissenheit ihnen nichts von dem erweisen, was der Mutter gebührt.


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