17. Zwei Weisen der Erziehung. Die prüfende Zurechtweisung als vollkommenste Reinigung


Fremder: Mir scheint auch dies noch wie gespalten zu sein.

Theaitetos: Wie denn?

Fremder: Es scheint in der Belehrung durch Reden ein Weg rauher zu sein, der andere glatter.

Theaitetos: Welches soll jeder von beiden sein?

Fremder: Der eine ist die altväterliche Weise, wie sie mit ihren Söhnen sonst umgingen, viele auch noch jetzt mit ihnen umgehn, wenn sie in etwas fehlgreifen, [230a] bald sie heftig anlassend, bald wieder ihnen sanftmütiger zusprechend; das Ganze aber nennt man am füglichsten das Ermahnen.

Theaitetos: Ich verstehe.

Fremder: Der andere aber, da viele, die es sich recht überlegt haben, zu glauben scheinen, dass alle Torheit unwillkürlich wäre, und dass keiner darin, worin er schon stark zu sein glaubte, noch etwas würde lernen wollen, und dass nach vieler Arbeit die ermahnende Art der Unterweisung doch nicht viel ausrichten würde.

Theaitetos: Woran sie auch wohl ganz recht glaubten.

Fremder: [b] So schicken sie sich denn zur Vertilgung dieser Meinung auf eine andere Weise an.

Theaitetos: Auf welche doch?

Fremder: Sie fragen sie aus in dem, worüber einer etwas Rechtes zu sagen glaubt, der doch nichts sagt. Dabei forschen sie der unsicher Schwankenden Meinungen leichtlich aus, welche sie dann in der Rede zusammenbringen und neben einander stellen, wobei sie durch diese Zusammenstellung selbst zeigen, dass sie eine der andern zugleich über dieselben Gegenstände in denselben Beziehungen, nach demselben Sinne widerspreche. Jene nun, wenn sie dies wahrnehmen, werden unwillig gegen sich und milder gegen die andern, [c] und auf diese Weise ihrer hohen und hartnäckigen Vorstellungen von sich selbst entledigt, welches die erfreulichste aller Erledigungen ist für den, der es mit anhört, und dem, welchem sie begegnet, die zuverlässigste. Denn, lieber Sohn, so, wie die Ärzte des Leibes der Meinung sind, der Leib könne die ihm beigebrachte Nahrung nicht eher nutzen, bis jemand die Hindernisse in ihm selbst weggeschafft habe, denken die Reinigenden ebenso dasselbe von der Seele, dass sie nicht eher von den ihr beigebrachten Kenntnissen Vorteil haben könne, [d] bis durch prüfende Zurechtweisung einer den Zurechtweisenden zur Scham bringt, die den Kenntnissen im Wege stehenden Meinungen ihm benimmt und ihn rein darstellt, so dass er nur das, was er wirklich weiß, zu wissen glaubt, mehr aber nicht.

Theaitetos: Die vorzüglichste wenigstens und weiseste Gemütsbeschaffenheit ist diese.

Fremder: Deshalb nun, Theaitetos, müssen wir auch sagen, dass die prüfende Zurechtweisung die herrlichste und vortrefflichste aller Reinigungen ist, und müssen den Ungeprüften, wenn er auch der Großkönig wäre, [e] für höchst unrein halten, und dass er ungebildet und häßlich gerade da ist, wo der, der wahrhaft glückselig sein will, am reinsten und schönsten sein muß.

Theaitetos: Auf alle Weise.


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