Neuordnung durch »Eingebung« und »Einfühlung«
Wir fragen bei diesem Anlaß: Wie entstehen in dieser Welt der Eingestelltheit auf das »Regelmäßige« als das »Geltende« irgendwelche »Neuerungen«? Von außen her: durch Änderung der äußeren Lebensbedingungen, das ist kein Zweifel. Aber diese geben nicht die geringste Gewähr, daß nicht der Untergang des Lebens statt einer Neuordnung ihnen antwortet; und vor allem sind sie keineswegs die unentbehrliche, gerade bei vielen höchst weittragenden Fällen von Neuordnungen nicht einmal eine mitwirkende Bedingung. Sondern nach allen Erfahrungen der Ethnologie scheint die wichtigste Quelle der Neuordnung der Einfluß von Individuen zu sein, welche bestimmt gearteter »abnormer« (vom Standpunkt der heutigen Therapie nicht selten – aber auch: nicht etwa immer oder regelmäßig – als »pathologisch« gewerteter) Erlebnisse und durch diese bedingter Einflüsse auf andere fähig sind. Wir sprechen hier nicht von der Art, wie die infolge ihrer »Abnormität« als »neu« erscheinenden Erlebnisse entstehen, sondern von der Art ihrer Wirkung. Diese Einflüsse, welche die »Trägheit« des Gewohnten überwinden, können auf sehr verschiedenem psychologischen Wege vor sich gehen. Zwei Formen in ihrer, bei allen Übergängen, Gegensätzlichkeit terminologisch klar herausgehoben zu haben, ist ein Verdienst von Hellpach. Die eine ist: plötzliche Erweckung der Vorstellung eines Handelns des Beeinflußten als eines »gesollten «, durch drastisch wirkende Mittel: »Eingebung«. Die andere: Miterleben eigenen inneren Verhaltens des Beeinflussenden seitens der Beeinflußten: »Einfühlung«. Die Art des durch diese Vermittlung entstehenden Handelns kann im Einzelfall die allerverschiedenste sein. Sehr häufig aber entsteht ein auf den Beeinflussenden und sein Erleben bezogenes massenhaftes »Gemeinschaftshandeln«, aus dem sich dann »Einverständnisse« entsprechenden Inhalts entwickeln können. Sind diese den äußeren Lebensbedingungen »angepaßt«, so überdauern sie. Die Wirkungen von »Einfühlung« und namentlich »Eingebung« – meist unter dem vieldeutigen Namen »Suggestion« zusammengefaßt – gehören zu den Hauptquellen der Durchsetzung von faktischen Neuerungen, deren »Einübung« als Regelmäßigkeiten dann bald wieder das Gefühl der »Verbindlichkeit« stützt, von dem sie – eventuell – begleitet sind. Jenes »Verbindlichkeitsgefühl« selbst aber kann – sobald auch nur die Rudimente einer solchen sinnhaften Konzeption vorhanden sind – unzweifelhaft auch bei Neuerungen als das Originäre und Primäre auftreten, insbesondere als ein psychologischer Bestandteil der »Eingebung«. Es ist verwirrend, wenn als primärer und grundlegender Vorgang die »Nachahmung« eines neuartigen Verhaltens als Weg seiner Verbreitung angesehen wird. Diese ist gewiß von ganz außerordentlicher Wichtigkeit. Aber sie ist in der Regel sekundär und immer nur ein Spezialfall. Es ist doch nicht eine »Nachahmung« des Menschen, wenn der Hund – sein ältester Gefährte – sich sein Verhalten von ihm »eingeben« läßt. Genau so aber ist in einem sehr breiten Umkreis von Fällen die Beziehung zwischen Beeinflussendem und Beeinflußten geartet. In anderen dürfte sie sich mehr dem Typus der »Einfühlung«, in noch anderen dem der »Nachahmung« – der zweckrationalen oder der »massenpsychologisch« bewirkten – annähern. In jedem Fall aber befindet sich die entstehende Neuerung dann am meisten auf dem Wege dazu, »Einverständnis« und schließlich »Recht« entstehen zu lassen, wenn eine nachhaltige »Eingebung« oder eine intensive »Einfühlung« ihre Quelle war. Sie schafft dann »Konvention« oder, unter Umständen, direkt einverständnismäßiges Zwangshandeln gegen Renitente. Aus der »Konvention«, der Billigung oder Mißbilligung der Umwelt, heraus entwickelt sich nach aller historischen Erfahrung, solange religiöser Glaube stark ist, immer wieder die Hoffnung und Vorstellung, daß auch die übersinnlichen Mächte jenes von der Umwelt gebilligte oder mißbilligte Verhalten belohnen oder bestrafen werden. Weiterhin – in geeigneten Fällen – die Annahme, daß nicht nur der Nächstbeteiligte, sondern auch seine Umwelt unter der Rache jener übersinnlichen Gewalten zu leiden haben könnte, also diese, entweder [durch] jeden Einzelnen oder durch den Zwangsapparat eines Verbandes, zu reagieren habe. Oder die infolge stets wiederholter Innehaltung einer bestimmten Art von Handeln erwachsende Vorstellung der speziellen Ordnungsgaranten, daß es sich schon jetzt nicht nur um eine Sitte oder Konvention, sondern um eine zu erzwingende Rechtspflicht handle: eine derart praktisch geltende Norm nennt man Gewohnheitsrecht. Oder schließlich das rational erwogene Verlangen von Interessenten, daß die konventionelle oder auch die gewohnheitsrechtliche Pflicht, um sie gegen Erschütterungen zu sichern, ausdrücklich unter die Garantie eines Zwangsapparates gestellt, also ein gesatztes Recht werde. Vor allem gleitet erfahrungsgemäß auf dem Gebiet der internen Gewaltverteilung zwischen den »Organen« eines anstaltsmäßigen Zweckverbandes fortwährend der Inhalt von nur konventionell garantierten Regeln des Verhaltens in das Gebiet des rechtlich geforderten und garantierten hinüber: die Entwicklung der englischen »Verfassung« ist ein Hauptbeispiel dafür. Und endlich kann jede Auflehnung gegen die Konvention dazu führen, daß die Umwelt gegen den Rebellen von ihren zwangsmäßig garantierten subjektiven Rechten einen ihm lästigen Gebrauch macht, z.B. der Hausherr gegen jemanden, der die rein konventionellen Regeln des geselligen Zusammenseins verletzt, von seinem Hausrecht, der Kriegsherr gegen Verletzungen des Ehrenkodex vom Recht der Dienstentlassung. Dann ist die Konventionalregel tatsächlich indirekt durch Zwangsmittel gestützt. Der Unterschied zum »ungarantierten Recht « besteht dann darin, daß der Eintritt dieser Zwangsmittel zwar eventuelle faktische, aber nicht »Rechtsfolge« der Konventionsverletzung ist: das »Hausrecht« hat der Hausherr rechtlich ohnehin, während ein direkt garantieloser Rechtssatz seine Bedeutung als solcher dadurch empfängt, daß seine Nichtachtung irgendwie kraft einer garantierten »Rechtsnorm« Folgen hat. Wo andererseits ein Rechtssatz auf die »guten Sitten«, d.h. auf billigenswerte Konventionen, Bezug nimmt, ist die Innehaltung der konventionellen Pflichten zugleich Rechtspflicht (indirekt garantiertes Recht) geworden. Es existieren ferner in nicht ganz geringer Zahl solche Zwischenbildungen wie etwa die seinerzeit in der Provence mit »Gerichtsbarkeit« in erotischen Dingen betrauten »Liebeshöfe« der Trobadors, ferner der »Richter« in seiner ursprünglichen, schiedsrichterlichen, nur Vermittlung zwischen den Fehdeparteien übernehmenden, gegebenenfalls einen Wahrspruch abgebenden, aber jeder eigenen Zwangsgewalt entbehrenden Stellung oder etwa heute die internationalen »Schiedsgerichte«. In solchen Fällen ist aus der rein amorphen Billigung oder Mißbilligung der Umwelt ein autoritär formuliertes Gebieten, Verbieten und Erlauben geworden, also ein konkret organisierter psychischer Zwang, und man wird in solchen Fällen daher wenigstens dann von »Recht« sprechen, wenn es sich nicht – wie bei den »Liebeshöfen« – um bloßes Spiel handelt und wenn hinter dem Urteil mehr als nur die unmaßgebliche Ansicht des Urteilenden steht, also zum mindesten die irgendwie von einem Apparat von Personen getragene Boykott-»Selbsthilfe« (der Sippe oder des verletzten Staats) als normale Folge zu erwarten ist, wie in den beiden zuletzt genannten Fällen. Für den Begriff der »Konvention« ist nach unserer Begriffsbestimmung nicht genügend, daß ein Handeln bestimmter Art überhaupt, sei es auch von noch so vielen Einzelnen, »gebilligt«, ein entgegengesetztes »mißbilligt« wird, sondern: daß in einer »spezifischen Umwelt« – worunter natürlich nicht eine örtliche Umwelt gemeint ist – des Handelnden die Chance einer solchen Stellungnahme bestehe. Das heißt: es muß irgendein Merkmal angebbar sein, welches den betreffenden Umkreis von Personen, der diese »Umwelt« ausmacht, begrenzt, sei jenes nun beruflicher, verwandtschaftlicher, nachbarschaftlicher, ständischer, ethnischer, religiöser, politischer oder welcher Art immer und sei die Zugehörigkeit eine noch so labile. Dagegen ist für die Konvention in unserem Sinn nicht Voraussetzung, daß jener Umkreis einen »Verband« (in unserem Sinne) bildet; das Gegenteil ist vielmehr gerade bei ihr sehr häufig. Die Geltung von »Recht« in unserem Sinne ist dagegen, weil es nach unserer Definition einen »Zwangsapparat« voraussetzt, stets ein Bestandteil eines (aktuellen oder potentiellen) »Verbandshandelns« – was, wie wir wissen, natürlich nicht etwa bedeutet, daß lediglich »Verbandshandeln« (oder selbst nur: lediglich »Gemeinschaftshandeln«) durch den Verband rechtlich geregelt: »verbandsgeregeltes« Handeln wird. In diesem Sinn kann man den »Verband« als »Träger« des Rechts bezeichnen. Andererseits aber ist Gemeinschaftshandeln, Einverständnis- oder Gesellschaftshandeln, Verbandshandeln, Anstaltshandeln, – welches ja seinerseits schon einen Ausschnitt aus dem soziologisch relevanten Geschehen, Sichverhalten, Handeln darstellt, – außerordentlich weit davon entfernt, sich subjektiv nur an »Rechtsregeln« im hier angenommenen Sinn des Wortes zu orientieren, wie wir immer wieder an Beispielen sehen werden. Wenn man unter der »Ordnung« eines Verbandes alle tatsächlich feststellbaren Regelmäßigkeiten des Sichverhaltens versteht, welche für den faktischen Verlauf des ihn konstituierenden oder von ihm beeinflußten Gemeinschaftshandelns charakteristisch oder als Bedingung wesentlich sind, dann ist diese »Ordnung« nur zum verschwindenden Teil die Folge der Orientierung an »Rechtsregeln«. Soweit sie überhaupt bewußt an »Regeln« orientiert sind – und nicht bloßer dumpfer »Gewöhnung« entspringen –, sind es teils solche der »Sitte« und »Konvention«, teils aber, und sehr oft gänzlich überwiegend, Maximen subjektiv zweckrationalen Handelns im eigenen Interesse jedes der daran Beteiligten, auf dessen Wirksamkeit sie oder die anderen zählen und oft auch ohne weiteres, sehr häufig aber überdies noch kraft spezieller, aber nicht rechtszwanggeschützter, Vergesellschaftungen oder Einverständisse objektiv zählen können. Die Chance des Rechtszwangs, welche, wie schon erwähnt, das »rechtmäßige« Verhalten des Handelnden nur in geringem Grade bestimmt, steht als eventuelle Garantie auch objektiv nur hinter einem Bruchteil des tatsächlichen Ablaufs des Einverständnishandelns.