Der juristische und der soziologische Begriff und Sinn der Rechtsordnung


Wenn von »Recht«, »Rechtsordnung«, »Rechtssatz« die Rede ist, so muß besonders streng auf die Unterscheidung juristischer und soziologischer Betrachtungsweise geachtet werden. Die erstere fragt: was als Recht ideell gilt. Das will sagen: welche Bedeutung, und dies wiederum heißt: welcher normative Sinn einem als Rechtsnorm auftretenden sprachlichen Gebilde logisch richtigerweise zukommen sollte. Die letztere dagegen fragt: was innerhalb einer Gemeinschaft faktisch um deswillen geschieht, weil die Chance besteht, daß am Gemeinschaftshandeln beteiligte Menschen, darunter insbesondere solche, in deren Händen ein sozial relevantes Maß von faktischem Einfluß auf dieses Gemeinschaftshandeln liegt, bestimmte Ordnungen als geltend subjektiv ansehen und praktisch behandeln, also ihr eigenes Handeln an ihnen orientieren. – Darnach bestimmt sich auch die prinzipielle Beziehung zwischen Recht und Wirtschaft.

Die juristische, genauer: die rechtsdogmatische, Betrachtung stellt sich die Aufgabe: Sätze, deren Inhalt sich als eine Ordnung darstellt, welche für das Verhalten eines irgendwie bezeichneten Kreises von Menschen maßgebend sein soll, auf ihren richtigen Sinn, und das heißt: auf die Tatbestände, welche ihr, und die Art, wie sie ihr unterliegen, zu untersuchen. Dabei verfährt sie in der Weise, daß sie die verschiedenen einzelnen Sätze jener Art, ausgehend von ihrer unbezweifelten empirischen Geltung, ihrem logisch richtigen Sinn [nach] dergestalt zu bestimmen trachtet, daß sie dadurch in ein logisch in sich widerspruchsloses System gebracht werden. Dies System ist die »Rechtsordnung« im juristischen Sinn des Wortes. – Die Sozialökonomik dagegen betrachtet dasjenige tatsächliche Handeln der Menschen, welches durch die Notwendigkeit der Orientierung am »wirtschaftlichen Sachverhalt« bedingt ist, in seinen tatsächlichen Zusammenhängen. Die durch die Art des Interessenausgleichs jeweils einverständnismäßig entstandene Verteilung der faktischen Verfügungsgewalt über Güter und ökonomische Dienste und die Art, wie beide kraft jener auf Einverständnis ruhenden faktischen Verfügungsgewalt dem gemeinten Sinn nach tatsächlich verwendet werden, nennen wir »Wirtschaftsordnung«. Es liegt auf der Hand, daß beide Betrachtungsweisen sich gänzlich heterogene Probleme stellen und ihre »Objekte« unmittelbar gar nicht in Berührung miteinander geraten können, daß die ideelle »Rechtsordnung« der Rechtstheorie direkt mit dem Kosmos des faktischen wirtschaftlichen Handelns nichts zu schaffen hat, da beide in verschiedenen Ebenen liegen: die eine in der des ideellen Geltensollens, die andere in der des realen Geschehens. Wenn nun trotzdem Wirtschafts- und Rechtsordnung in höchst intimen Beziehungen zueinander stehen, so ist eben diese letztere dabei nicht in juristischem, sondern in soziologischem Sinne verstanden: als empirische Geltung. Der Sinn des Wortes »Rechtsordnung« ändert sich dann völlig. Sie bedeutet dann nicht einen Kosmos logisch als »richtig« erschließbarer Normen, sondern einen Komplex von faktischen Bestimmungsgründen realen menschlichen Handelns. Dies bedarf der näheren Interpretation.

Daß irgendwelche Menschen sich in einer bestimmten Art verhalten, weil sie dies als durch Rechtssätze so vorgeschrieben ansehen, ist allerdings eine wesentliche Komponente des realen empirischen Inslebentretens und auch des Fortbestandes einer »Rechtsordnung«. Aber natürlich – wie das früher2 über die Bedeutung der »Existenz« rationaler Ordnungen Gesagte ergibt – gehört keineswegs dazu: daß alle oder auch nur die Mehrzahl der an jenem Verhalten Beteiligten dies Verhalten aus jenem Motiv heraus einschlagen. Das pflegt vielmehr niemals der Fall zu sein. Die breiten Schichten der Beteiligten verhalten sich der Rechtsordnung entsprechend, entweder weil die Umwelt dies billigt und das Gegenteil nicht billigt, oder nur aus dumpfer Gewohntheit an die als Sitte eingelebten Regelmäßigkeiten des Lebens, nicht aber aus einer als Rechtspflicht gefühlten Obödienz. Wäre diese letztere Haltung universell, dann würde allerdings das Recht seinen subjektiven Charakter als solches gänzlich einbüßen und subjektiv als bloße Sitte beachtet werden. So lange objektiv die Chance [besteht], daß ein Zwangsapparat [(s. gleich)] gegebenenfalls jene Normen erzwingt, so würden sie uns dennoch als »Recht« gelten müssen. Unnötig ist ebenfalls – nach dem früher Gesagten –, daß alle, welche die Überzeugung von einer bestimmten Art der Normiertheit eines bestimmten Handelns durch einen Rechtssatz teilen, dem nun auch wirklich immer nachleben. Das ist ebenfalls nie der Fall und, da nach unserer allgemeinen Definition die Tatsache einer »Orientiertheit« des Handelns an einer Ordnung, nicht aber: deren »Befolgen«, über die »Geltung« entscheidet, nicht nötig. »Recht« ist für uns eine »Ordnung« mit gewissen spezifischen Garantien für die Chance ihrer empirischen Geltung. Und zwar soll unter »garantiertem objektiven Recht« der Fall verstanden werden: daß die Garantie in dem Vorhandensein eines »Zwangsapparates« im früher3 definierten Sinn besteht, also einer oder mehrerer sich eigens zur Durchsetzung der Ordnung durch speziell dafür vorgesehene Zwangsmittel (Rechtszwang) bereithaltender Personen. Die Zwangsmittel können psychischer oder physischer Art, direkt oder indirekt wirkende sein, sich im Einzelfall gegen die an der Einverständnisgemeinschaft oder Vergesellschaftung, dem Verband oder der Anstalt, für welche die Ordnung (empirisch) gilt, Beteiligten oder auch nach außen richten. Sie sind die »Rechtsordnungen« der betreffenden Vergemeinschaftung. Bei weitem nicht alle Ordnungen, welche einverständnismäßig für eine Vergemeinschaftung gelten, sind – wie später zu erörtern – »Rechtsordnungen«. Auch nicht alles geordnete »Organhandeln« der den Zwangsapparat einer Vergemeinschaftung bildenden Personen ist auf Rechtszwang [gerichtet], sondern nur jenes wollen wir darunter begreifen, dessen geltender Sinn dahin geht: die Befolgung einer Ordnung durchzusetzen lediglich als solche, also rein formal um deswillen, weil sie als verbindlich geltend in Anspruch genommen wird, nicht aber – dem geltenden Sinn nach – je nach Zweckmäßigkeits-[gründen] oder anderen materialen Bedingungen. Es versteht sich, daß die Durchsetzung der Geltung einer Ordnung faktisch im Einzelfall durch die allermannigfachsten Motive bedingt sein kann: als garantiertes »Recht« wollen wir sie aber nur da bezeichnen, wo die Chance besteht, es werde gegebenenfalls »um ihrer selbst willen« Zwang, »Rechtszwang«, eintreten.

Nicht jedes (objektive) »Recht« ist – wie wir noch mehrfach sehen werden – »garantiertes« Recht. Wir wollen von Recht – »indirekt garantiertem« oder »ungarantiertem« Recht – auch überall da sprechen, wo die Bedeutung der Geltung einer Norm darin besteht: daß die Art der Orientierung des Handelns an ihr überhaupt irgendwelche »Rechtsfolgen« hat. Das heißt: wo irgendwelche anderen Normen gelten, welche an die »Befolgung« oder »Verletzung« jener ersten bestimmte, ihrerseits durch Rechtszwang garantierte Chancen eines Einverständnishandelns knüpfen. Wir werden diesen für ein sehr breites Gebiet des Rechtslebens zutreffenden Fall gelegentlich durch Beispiele zu illustrieren haben, wollen aber zur Vereinfachung a potiori, wenn von »Recht« geredet wird, an direkt durch Rechtszwang garantierte Normen denken. – Bei weitem nicht jedes garantierte (objektive) Recht ist ferner durch »Gewalt« (Inaussichtstehen von physischem Zwang) garantiert. Diese oder gar die der heutigen Prozeßtechnik angehörige Art der Geltendmachung von Privatrechtsansprüchen: »Klage« vor einem »Gericht« mit darauffolgender Zwangsvollstreckung ist uns nicht das soziologisch entscheidende Merkmal des Rechts oder auch nur des »garantierten Rechts«. Das Gebiet des heutigen sogenannten »öffentlichen« Rechts, das heißt: der Normen für das Organhandeln und für das anstaltsbezogene Handeln in der Staatsanstalt, kennt heute zahlreiche subjektive Rechte und objektive Rechtsnormen, gegen deren Verletzung nur im Wege einer »Beschwerde« oder nur durch Remonstration von dazu berufenen Personenkreisen ein Zwangsapparat in Bewegung gesetzt werden kann, sehr oft ein solcher, dem jedes Mittel eventuellen physischen Zwanges gänzlich fehlt. Die Frage, ob dann ein garantiertes »Recht« vorliegt, entscheidet sich für die Soziologie darnach, ob der Zwangsapparat für diese nicht gewaltsame Ausübung von Rechtszwang geordnet ist und ob er faktisch ein solches Gewicht besitzt, daß durchschnittlich eine Chance: die geltende Norm werde infolge jenes Rechtszwanges Nachachtung finden, in praktisch relevantem Maße besteht. Heute ist der gewaltsame Rechtszwang Monopol der Staatsanstalt. In bezug auf den gewaltsamen Rechtszwang gelten heute alle anderen, einen solchen ausübenden Vergemeinschaftungen als heteronom und meist auch heterokephal. Dies ist aber eine Eigenart bestimmter Entwicklungsstufen. Von »staatlichem«, das heißt: staatlich garantiertem, Recht wollen wir da und insoweit sprechen, als die Garantie dafür: der Rechtszwang, durch die spezifischen, im Normalfall also: direkt physischen Zwangsmittel der politischen Gemeinschaft ausgeübt wird. Im Sinne des »staatlichen« Rechts bedeutet also das empirische Bestehen eines »Rechtssatzes«: daß für den Fall des Eintritts bestimmter Ereignisse auf Grund eines Einverständnisses mit Wahrscheinlichkeit darauf gezählt werden kann, daß ein Verbandshandeln von Organen des politischen Verbandes eintritt, welches durch die bloße Tatsache, daß es eventuell in Aussicht steht, geeignet ist, den aus jenem Rechtssatz, nach der gangbaren Art seiner Deutung, zu entnehmenden Anordnungen Nachachtung oder, wo dies unmöglich geworden ist, »Genugtuung« und »Entschädigung« zu verschaffen. Jenes Ereignis, an welches sich diese Folge: der staatliche Rechtszwang knüpft, kann in einem bestimmten menschlichen Verhalten (Vertragsschluß, Vertragsverletzung, Delikt) bestehen. Doch ist dies nur ein Sonderfall. Denn auch z.B. für den Fall des Steigens eines Flusses über einen bestimmten Pegelstand kann kraft empirisch geltender Rechtssätze die Anwendung der spezifischen Zwangsmittel der politischen Gewalt gegen Personen und Sachen in Aussicht stehen.

Ganz und gar nicht zum Begriffe der Geltung eines »Rechtssatzes« in diesem normalen Sinn gehört: daß etwa diejenigen, welche sich der Ordnung, die er enthält, fügen, dies vorwiegend oder auch nur überhaupt um deswillen tun, weil ein Zwangsapparat (im erörterten Sinn) dafür zur Verfügung steht. Davon ist – wie bald noch zu erörtern – keine Rede. Vielmehr können die Motive der Fügsamkeit gegenüber dem Rechtssatz die denkbar verschiedensten sein. In ihrer Mehrzahl haben sie – je nachdem – mehr utilitarischen oder mehr ethischen oder subjektiv konventionellen, die Mißbilligung der Umwelt scheuenden Charakter. Die jeweils vorwaltende Art dieser Motive ist von sehr großer Wichtigkeit für die Geltungsart und die Geltungschancen des Rechtes selbst. Aber für seinen formalen soziologischen Begriff, so wie wir ihn verwenden wollen, sind diese psychologischen Tatbestände irrelevant, es kommt vielmehr – beim garantierten Recht – nur darauf an, daß eine hinlänglich starke Chance des Eingreifens eines eigens hierauf eingestellten Personenkreises auch in Fällen, wo nur der Tatbestand der Normverletzung rein als solcher vorliegt, also auf Grund der Geltendmachung lediglich dieses formalen Anlasses, tatsächlich besteht.


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