§ 3. Bedeutung und Grenzen des Rechtszwangs für die Wirtschaft


Die Rechtsgarantien und also diejenigen Normvorstellungen, auf denen sie als Motiv ihrer Schaffung, Auslegung, Anwendung beruhen oder mitberuhen, kommen für eine nach empirischen Regelmäßigkeiten und Typen forschende Disziplin, wie die Soziologie es ist, in Betracht sowohl als Folge, wie, vor allem, als Ursache oder Mitursache von Regelmäßigkeiten, sowohl des soziologisch direkt relevanten Handelns von Menschen wie, dadurch hervorgerufen, der soziologisch indirekt relevanten Naturgeschehnisse.

Faktische Regelmäßigkeiten des Verhaltens (»Sitte«) können, sahen wir, Quelle der Entstehung von Regeln für das Verhalten (»Konvention«, »Recht«) werden. Ebenso aber umgekehrt. Nicht nur solche Regelmäßigkeiten werden durch die (konventionellen oder) Rechtsnormen erzeugt oder miterzeugt, welche direkt den Inhalt ihrer Anordnungen ausmachen, sondern auch andere. Daß z.B. ein Beamter täglich regelmäßig auf seinem Büro erscheint, ist direkt Folge der Anordnung einer praktisch als »geltend« behandelten rechtlichen Norm. Daß dagegen der »Reisende« einer Fabrik sich jährlich regelmäßig zur Entgegennahme von Aufträgen bei den »Detaillisten« einstellt, ist nur indirekt, durch die faktische Zulassung der Konkurrenz um die Kundschaft und die durch diese Zulassung mitbedingte Nötigung dazu, von Rechtsnormen mitbestimmt. Daß weniger Kinder zu sterben pflegen, wenn das Fernbleiben der stillenden Mütter von der Arbeit als konventionelle oder rechtliche »Norm« gilt, ist gewiß Folge des Geltens jener Norm, und wenn sie eine gesatzte Rechtsnorm ist, auch einer der rationalen Zwecke von deren Schöpfern. Aber »anordnen« können sie natürlich nur dieses Fernbleiben, nicht jenes Wenigersterben. Und auch für das direkt befohlene oder verbotene Handeln ist die praktische Wirksamkeit der Geltung einer Zwangsnorm natürlich problematisch: ihre Befolgung ist nur ihre »adäquate«, nicht ihre ausnahmslose Folge. Starke Interessen können vielmehr dazu führen, daß trotz des Zwangsapparats nicht nur vereinzelt, sondern überwiegend und dauernd der [kraft der Bereithaltung] dieses [Zwangs] »geltenden« Rechtsnorm ungestraft zuwidergehandelt wird. Die garantierende Zwangsgewalt pflegt, wenn ein Zustand dieser Art konstant geworden ist und die Beteiligten infolgedessen die Überzeugung von der Normgemäßheit ihres Tuns, statt des durch die prätendierend geltende Rechtsregel geforderten, gewonnen haben, schließlich diese letztere nicht mehr zu erzwingen, und der Rechtsdogmatiker spricht dann von »Derogation durch Gewohnheitsrecht«.

Allein auch ein Zustand chronischen Konflikts zwischen nebeneinander »geltenden« Rechtsnormen, die der Zwangsapparat der politischen Gewalt garantiert, und konventionellen Regeln ist – wie auf dem Gebiet des Zweikampfs als einer konventionellen Umbildung der Privatrache – möglich und bereits früher6 besprochen worden. Und während es allerdings nichts Seltenes ist, daß Rechtsnormen rational gesatzt werden, um bestehende »Sitten« und Konventionen zu ändern, ist dennoch der normale Sachverhalt der: daß die Rechtsordnung nicht etwa infolge des Bestehens der Zwangsgarantie in der Realität empirisch »gilt«, sondern deshalb, weil ihre Geltung als »Sitte« eingelebt und »eingeübt« ist und die Konvention die flagrante Abweichung von dem ihr entsprechenden Verhalten meist mißbilligt. Für den Rechtsdogmatiker ist die (ideelle) Geltung der Rechtsnorm das begriffliche prius, ein Verhalten, welches rechtlich nicht (direkt) normiert ist, ist ihm rechtlich »erlaubt« und also insofern von der Rechtsordnung (ideell) dennoch mitbetroffen. Für den Soziologen ist umgekehrt die rechtliche, und insbesondere die rational gesatzte, Regelung eines Verhaltens empirisch nur eine Komponente in der Motivation des Gemeinschaftshandelns, und zwar eine historisch meist spät auftretende und sehr verschieden stark wirkende. Die überall im Dunkel liegenden Anfänge faktischer Regelmäßigkeiten und »Sitten« des Gemeinschaftshandelns betrachtet er, wie wir sahen, als entstanden durch die auf Trieben und Instinkten ruhende Einübung eines den gegebenen Lebensnotwendigkeiten »angepaßten« Sichverhaltens, welches zunächst jedenfalls nicht durch eine gesatzte Ordnung bedingt war und auch nicht durch eine solche verändert wurde. Das zunehmende Eingreifen gesatzter Ordnungen aber ist für unsere Betrachtung nur ein besonders charakteristischer Bestandteil jenes Rationalisierungs- und Vergesellschaftungsprozesses, dessen fortschreitendes Umsichgreifen in allem Gemeinschaftshandeln wir auf allen Gebieten als wesentlichste Triebkraft der Entwicklung zu verfolgen haben werden.

Zusammenfassend ist über die hier allein zu erörternden allgemeinsten Beziehungen von Recht und Wirtschaft zu sagen:

1. Das Recht (immer im soziologischen Sinn) garantiert keineswegs nur ökonomische, sondern die allerverschiedensten Interessen, von den normalerweise elementarsten: Schutz rein persönlicher Sicherheit bis zu rein ideellen Gütern wie der eigenen »Ehre« und derjenigen göttlicher Mächte. Es garantiert vor allem auch politische, kirchliche, familiäre oder andere Autoritätsstellungen und überhaupt soziale Vorzugslagen aller Art, welche zwar in den mannigfachsten Beziehungen ökonomisch bedingt und relevant sein mögen, aber selbst nichts Ökonomisches und auch nichts notwendig oder vorwiegend aus ökonomischen Gründen Begehrtes sind.

2. Eine »Rechtsordnung« kann unter Umständen unverändert bestehen bleiben, obwohl die Wirtschaftsbeziehungen sich radikal ändern. Theoretisch – und in der Theorie operiert man zweckmäßig mit extremen Beispielen – könnte ohne die Änderung auch nur eines einzigen Paragraphen unserer Gesetze eine »sozialistische« Produktionsordnung durchgeführt werden, wenn man einen sukzessiven Erwerb der Produktionsmittel durch die politische Gewalt im Wege freier Verträge sich durchgeführt denkt, – ein gewiß höchst unwahrscheinlicher, aber (was theoretisch genügt) keineswegs sinnloser Gedanke. Die Rechtsordnung würde dann mit ihrem Zwangsapparat nach wie vor bereitstehen müssen für den Fall, daß zur Erzwingung der für die privatwirtschaftliche Produktionsordnung charakteristischen Verpflichtungen ihre Hilfe angerufen würde. Nur würde dieser Fall tatsächlich nie eintreten.

3. Die rechtliche Ordnung eines Tatbestandes kann vom Standpunkt der juristischen Denkkategorien aus betrachtet fundamental verschieden sein, ohne daß die Wirtschaftsbeziehungen dadurch in irgend erheblichem Maß berührt werden, wenn nämlich nur in den ökonomisch der Regel nach relevanten Punkten der praktische Effekt für die Interessenten der gleiche ist. Das ist, obwohl an irgend einem Punkte wohl jede Verschiedenheit der Rechtskonstruktion irgendwelche ökonomischen Folgen zeitigen kann, in sehr weitem Maße möglich und auch der Fall. Je nachdem etwa eine »Bergwerkspacht« juristisch als »Pacht« oder als »Kauf« zu konstruieren wäre, hätte man in Rom ein gänzlich verschiedenes Klageschema verwenden müssen. Aber der praktische Effekt des Unterschiedes für die Wirtschaftsordnung wäre sicher sehr gering gewesen.

4. Natürlich steht die Rechtsgarantie in weitestem Umfang direkt im Dienst ökonomischer Interessen. Und soweit dies scheinbar oder wirklich nicht direkt der Fall ist, gehören ökonomische Interessen zu den allermächtigsten Beeinflussungsfaktoren der Rechtsbildung, da jede eine Rechtsordnung garantierende Gewalt irgendwie vom Einverständnishandeln der zugehörigen sozialen Gruppen in ihrer Existenz getragen wird und die soziale Gruppenbildung in hohem Maße durch Konstellationen materieller Interessen mitbedingt ist.

5. Das Maß von Erfolgen, welches durch die hinter der Rechtsordnung stehende Eventualität des Zwanges erzielt werden kann, speziell auf dem Gebiet des wirtschaftlichen Handelns, ist außer durch andere Umstände auch durch dessen Eigenart begrenzt. Zwar ist es bloßer Wortstreit, wenn man versichert: das Recht könne überhaupt »Zwang« zu einem bestimmten wirtschaftlichen Handeln nicht ausüben, weil für alle seine Zwangsmittel der Satz bestehe: coactus tamen voluit. Denn das gilt für ausnahmslos allen Zwang, welcher den zu Zwingenden nicht lediglich wie ein totes Naturobjekt behandelt. Auch die drastischsten Zwangs- und Strafmittel versagen, wo die Beteiligten sich ihnen schlechterdings nicht fügen. Dies heißt aber innerhalb eines weiten Bereichs immer: wo sie nicht zu dieser Fügsamkeit »erzogen« sind. Die Erziehung zur Fügsamkeit in das jeweils geltende Recht ist im allgemeinen mit steigender Befriedung stark gestiegen. Also müßte, scheint es, auch die Erzwingbarkeit des Wirtschaftshandelns prinzipiell gestiegen sein. Trotzdem aber ist gleichzeitig die Macht des Rechts über die Wirtschaft in vieler Hinsicht nicht stärker, sondern schwächer geworden, als sie es unter anderen Verhältnissen war. Preistaxen z.B. sind zwar stets in ihrer Wirksamkeit prekär gewesen, sie haben aber unter den heutigen Bedingungen im ganzen noch weit weniger Chancen des Erfolgs als jemals früher. Der Grad der Möglichkeit, das wirtschaftliche Verhalten der Menschen zu beeinflussen, ist also nicht einfach Funktion der generellen Fügsamkeit gegenüber dem Rechtszwang. Die Schranken des faktischen Erfolgs des Rechtszwangs auf dem Gebiet der Wirtschaft ergeben sich vielmehr teils aus den Schranken des ökonomischen Könnens der Betroffenen: nicht nur der Gütervorrat selbst ist jeweils beschränkt, sondern auch seine jeweils möglichen Verwendungsarten sind begrenzt durch die eingeübten Arten der Verwendung und des Verkehrs der Wirtschaften untereinander, welche sich heteronomen Ordnungen, wenn überhaupt, dann nur nach schwierigen Neuorientierungen aller ökonomischen Dispositionen und meist mit Verlusten, jedenfalls also unter Reibungen fügen können. Diese werden um so stärker, je entwickelter und universeller eine spezifische Form des Einverständnishandelns: die Marktverflechtung der Einzelwirtschaften, und also ihre Abhängigkeit von fremdem Handeln ist. Zum anderen Teil liegen sie auf dem Gebiet des relativen Stärkeverhältnisses zwischen den privaten ökonomischen und den an der Befolgung der Rechtsvorschriften engagierten Interessen. Die Neigung, ökonomische Chancen preiszugeben, nur um legal zu handeln, ist naturgemäß gering, wo nicht eine sehr lebendige Konvention die Umgehung des formalen Rechtes stark mißbilligt, und das wird, wenn die von einer gesetzlichen Neuerung benachteiligten Interessen sehr verbreitet sind, nicht leicht der Fall sein. Umgehungen eines Gesetzes sind gerade auf ökonomischem Gebiet oft leicht verhehlbar. Ganz besonders unzugänglich aber sind erfahrungsgemäß dem Einfluß des Rechts die direkt aus den letzten Quellen ökonomischen Handelns fließenden Wirkungen: die ökonomischen Güterwertschätzungen, und damit die Preisbildung. Besonders dann, wenn ihre Determinanten in Produktion und Konsum nicht innerhalb eines vollkommen übersehbaren und direkt beherrschbaren Kreises von Einverständnishandelnden liegen. Ferner aber ist die rationale Kenntnis der Markt- und Interessenlage generell naturgemäß weit größer bei den am Marktverkehr mit ihren eigenen ökonomischen Interessen kontinuierlich Beteiligten als bei den nur ideell interessierten Schöpfern und ausführenden Organen von Rechtsvorschriften. In einer auf universeller Marktverschlungenheit ruhenden Wirtschaft entziehen sich namentlich die möglichen und ungewollten Nebenerfolge einer Rechtsvorschrift weitgehend der Voraussicht der Schöpfer der letzteren, weil sie ja in der Hand der privaten Interessenten liegen. Gerade sie können aber den beabsichtigten Zweck der Vorschrift im Erfolg bis zur Umkehrung ins gerade Gegenteil entstellen, wie dies oft geschehen ist. Wieweit diesen Schwierigkeiten gegenüber in der Realität jeweils die faktische Macht des Rechts in bezug auf die Wirtschaft reicht, ist nicht generell, sondern nur für die einzelnen Fälle zu ermitteln und also bei den Einzelproblemen der Sozialökonomik zu erörtern. Generell läßt sich nur sagen, daß, rein theoretisch betrachtet, die vollkommene Monopolisierung und also Übersichtlichkeit eines Markts auch die Beherrschung des betreffenden Ausschnitts der Wirtschaft durch Rechtszwang normalerweise technisch erleichtert. Wenn sie trotzdem faktisch dessen Chancen keineswegs immer erhöht, so liegt dies regelmäßig an dem Partikularismus des Rechts infolge des Bestehens konkurrierender politischer Verbände – wovon noch zu reden sein wird – und daneben an der Macht der durch die Monopolisten beherrschbaren privaten Interessen, welche sich seiner Anwendung widersetzen.

6. Die »staatliche« Garantie der Rechte ist rein theoretisch betrachtet für keine grundlegende ökonomische Erscheinung unentbehrlich. Besitzschutz leistet auch die Sippenhilfe. Den Schutz der Schuldverpflichtungen haben zuweilen religiöse Gemeinschaften (durch Androhung von Kirchenbann) wirksamer als politische dargeboten. Und auch »Geld« hat es, in fast allen seinen Formen, ohne staatliche Garantie seiner Annahme als Zahlungsmittel gegeben. Auch »chartales«, d.h. nicht durch den Stoffgehalt, sondern durch die Zeichnung von Stücken des Zahlungsmittels geschaffenes Geld ist ohne sie denkbar. Und gelegentlich kommt trotz staatlichen Rechtsschutzes chartales Geld nicht staatlichen Ursprungs vor: die »Münze« im Sinn eines durch die politische Gewalt mit Zwangskurs für Schulden versehenen Zahlungsmittels fehlt der altbabylonischen Zeit. Aber es scheinen sich Kontrakte zu finden, wonach z.B. Fünftelschekelstücke mit dem Stempel einer bestimmten »Firma« (wie wir sagen würden) zur Zahlung zu verwenden sind, die »proklamatorisch« in Aussicht gestellte staatliche Garantie also fehlt. Auch die gewählte »Werteinheit« ist nicht staatlichen, sondern kontraktlichen Ursprungs, – dennoch aber ist das Zahlungsmittel von »chartaler« Qualität und steht die staatliche Zwangsgarantie wenigstens hinter der getroffenen konkreten Vereinbarung. Rein »begrifflich« notwendig ist der »Staat« für die Wirtschaft also nirgends. Aber allerdings ist speziell eine Wirtschaftsordnung moderner Art ohne eine Rechtsordnung von sehr besonderen Eigenschaften, wie sie praktisch nur als »staatliche« Ordnung möglich ist, zweifellos nicht durchführbar. Die heutige Wirtschaft beruht auf durch Kontrakte erworbenen Chancen. So weit auch das eigene Interesse an der »Vertragslegalität« reicht und auch die gemeinsamen Interessen der Besitzenden am gegenseitigen Besitzschutz reichen, und so stark Konvention und Sitte den Einzelnen in gleichem Sinne auch heute noch bestimmen, so hat doch der Einfluß dieser Mächte infolge der Erschütterung der Tradition – einerseits der traditionsgeordneten Verhältnisse und andererseits des Glaubens an ihre Heiligkeit – auch außerordentlich an Bedeutung eingebüßt, sind die Interessen der Klassen so scharf wie je voneinander geschieden, verlangt die moderne Verkehrsgeschwindigkeit ein prompt und sicher funktionierendes, d.h.: ein durch die stärkste Zwangsgewalt garantiertes Recht und hat, vor allem, die moderne Wirtschaft kraft ihrer Eigenart die anderen Verbände, welche Träger von Recht und also Rechtsgarantie waren, vernichtet. Dies ist das Werk der Marktentwicklung. Die universelle Herrschaft der Marktvergesellschaftung verlangt einerseits ein nach rationalen Regeln kalkulierbares Funktionieren des Rechts. Und andererseits begünstigt die Marktverbreiterung, die wir als charakteristische Tendenz jener kennenlernen werden, kraft der ihr immanenten Konsequenzen die Monopolisierung und Reglementierung aller »legitimen« Zwangsgewalt durch eine universalistische Zwangsanstalt vermöge der Zersetzung aller partikulären, meist auf ökonomischen Monopolen ruhenden ständischen und anderen Zwangsgebilde.


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