1. Aristipp von Kyrene


Aristipp, dessen Lebenszeit zwischen 435 und 355 fällt, stammte aus dem schön gelegenen, reichen und genußliebenden Kyrene an der nordafrikanischen Küste. Er war, ehe er zu Sokrates kam, bereits mit der Lehre des Protagoras bekannt geworden und soll auch schon vor Sokrates' Tod als Lehrer aufgetreten sein. Nach demselben führte er, wie die meisten Sophisten, ein Wanderleben, das ihn unter anderem an den Hof des älteren und des jüngeren Dionys zu Syrakus führte. Die Anekdoten, die von seinem dortigen Zusammentreffen mit Plato berichten, stellen ihn im Gegensatz zu dem strengen Idealisten als geistreichen, aber servilen Lebemann dar. Neben der Beweglichkeit und sinnlichen Reizbarkeit, war seiner Persönlichkeit jedoch zugleich als Hauptzug eine heitere Gelassenheit eigen, die ihn zu einem Virtuosen der Lebenskunst und der Kunst der Menschenbehandlung machte, wie ihn Wieland in seinem gleichnamigen Roman anmutig, wenn auch durchaus romanhaft, geschildert hat. Der Schule, die er später in seiner Vaterstadt gründete, der kyrenaischen, gehörte seine Tochter Arete an, die erste weibliche Erscheinung, die uns in der Geschichte der Philosophie begegnet. Sie führte dann wieder ihren Sohn, den jüngeren Aristipp, in die Lehre des Großvaters ein, die nach einer alten Überlieferung erst durch diesen (den »von der Mutter belehrten«, mêtrodidaktos) ihre systematische Ausbildung empfangen und weitere Verbreitung erfahren haben soll.

Wie Sokrates, hielt auch Aristipp mathematische und physikalische Studien für unnütz, weil sie nicht nach dem fragten, was nützlich und schädlich sei. Aber nicht bloß die Physik, auch die Logik tritt bei ihm und seiner Schule durchaus hinter die Ethik zurück. Maßstab und Ausgangspunkt der letzteren bildet für ihn nicht mehr die sokratische Begriffsbestimmung, sondern die Rücksicht auf das eigene Wohlbefinden, nach dem, wie die Erfahrung lehrt, schon die Kinder und die Tiere instinktmäßig streben, die Lustund Unlustgefühle des Einzelnen. Daher wurden die Kyrenaiker auch Hedoniker (hêdonê = Lust) genannt. Es ist des Protagoras metron, auf das ethische Gebiet übertragen, daher Aristipp mehr als dessen wie als des Sokrates Fortbildner zu betrachten, wie er denn auch von Aristoteles als »Sophist« bezeichnet wird. Und zwar scheint er noch kein allgemeines höchstes Gut, die Glückseligkeit (eudamonia), wie später Epikur, aufgestellt, sondern in der Tat die Lust des Augenblicks als das Maßgebende betrachtet zu haben.

Nur die Gegenwart ist unser; um das Vergangene soll man sich nicht kümmern, noch um die Zukunft sorgen. Auch von den Pflichten und Sorgen des öffentlichen. Lebens halte man sich fern; der einzelne und sein Wohlergehen sind vielmehr Zweck und Ziel der Welt. »Tugend ist Genußfähigkeit «, so faßt ein moderner Schriftsteller (Windelband) des Cyrenaikers Lehre zusammen. Freilich soll man die Lust wählen, die den dauerhaftesten, intensivsten und am wenigsten durch folgende Unlust gestörten Genuß verspricht, und dazu bedarf man - nun zeigt sich doch ein sokratisches Moment - der Einsicht oder Besinnung (phronêsis). Die letztere ist jedoch nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck der Lust.

Bei so energisch ausgesprochenem Grundprinzip ist es wissenschaftlich unerheblich, ob Aristipps persönlicher Charakter mehr oder weniger edel gewesen ist, ob er die Lust etwas feiner oder gröber definiert hat. Unbedingt zuverlässige Nachrichten über seine Lehre sind uns ohnehin nicht erhalten. Dass ein geistreicher Mann wie er, der des Sokrates Umgang genossen und ihn hochgestellt hat, sein höchstes Ziel nicht in grober Sinnenlust sehen konnte, ist selbstverständlich. Skrupelloses, freies Genießen dessen, was das Leben bietet, aber zugleich Herrschaft über den Genuß erschien ihm das Erstrebenswerteste. Als ihm sein Umgang mit der Hetäre Lais vorgeworfen wurde, soll er geantwortet haben: 'Echô, ouk echomai (Ich besitze sie, nicht sie mich). Und Horaz, eine verwandte Natur, schreibt ihm das Wort zu: Mihi res, non me rebus subiungere conor. Die cyrenaische Weltanschauung ist eine heitere Lebensweisheit, die allen Dingen die beste Seite abzugewinnen weiß, nicht das Unmögliche begehrt und sich im frohen Genießen des Daseins nicht stören läßt. Eine gewisse unausgeglichene Differenz zwischen Lust und Einsicht blieb bei alledem bestehen. Sie war es vermutlich, die Aristipps Nachfolger zu gewissen Modifikationen seiner Lehre veranlaßte.


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