Zweites Kapitel.
[Gliederung des vernünftigen Seelenteils:
Spekulative und praktische Vernunft]


Als wir die Tugenden der Seele einteilten, haben wir gesagt, sie seien teils sittliche oder Charaktertugenden, teils Verstandestugenden. (1139a) Nachdem wir also die sittlichen Tugenden durchgegangen sind, wollen wir die anderen in der Art erklären, dass wir erst einige Bemerkungen über die Seele selbst hersetzen.

Es wurde weiter oben gesagt, es gebe zwei Seelenteile, einen vernunftbegabten und einen unvernünftigen. Jetzt aber müssen wir den vernunftbegabten wieder ebenso einteilen. Setzen wir also voraus, dass der vernunftbegabten Teile zwei sind, einer, mit dem wir jenes Sein betrachten, dessen Prinzipien sich nicht anders verhalten können, und einen, mit dem wir betrachten was sich anders verhalten kann. Denn wenn die Objekte der Gattung nach verschieden sind, ist auch der für das eine oder das andere Objekt eingerichtete Seelenteil der Gattung nach verschieden, wenn ja doch die Erkenntnis den erkennenden Potenzen gemäß einer gewissen Ähnlichkeit und Verwandtschaft zukommt. Der eine Teil heiße nun der »epistemonische« (scientifische oder wissende), der andere der »logistische« (ratiocinierende oder folgernde). Überlegen nämlich und Gedanken in bestimmter »Folge« verknüpfen ist dasselbe, nun überlegt aber niemand was sich nicht anders verhalten kann. So ist denn ein Teil der vernunftbegabten Seele der ratiocinierende.

Unsere Aufgabe wird es nun sein, zu ermitteln, welches je die beste Verfassung dieser beiden Teile ist. Denn das ist je ihre Tugend; die Tugend aber richtet sich nach ihrer eigentümlichen Verrichtung.

Dreierlei ist in der Seele, wovon Handlung und Wahrheitserkenntnis abhängt: Sinn, Verstand, Begehren. Unter diesen dreien kann der Sinn kein Prinzip des Handelns sein, was daraus hervorgeht, dass die Tiere zwar sinnbegabt sind, aber an dem, was man Handlung nennt, keinen Anteil haben. Was nun beim Denken Bejahung und Verneinung, das ist beim Begehren Streben und Fliehen. Darum muß, da die sittliche Tugend ein Habitus der Willenswahl und die Willenswahl ein überlegtes Begehren ist, der Ausspruch der Vernunft wahr und das Begehren des Willens recht sein, wenn die getroffene Wahl der Sittlichkeit entsprechen soll, und es muß eines und dasselbe von der Vernunft bejaht und von dem Willen erstrebt werden.

Das ist nun die praktische Vernunft und Wahrheit. Das Gute und Schlechte der theoretischen Vernunft aber, die nicht handelt und nicht hervorbringt, ist Wahrheit und Falschheit, wie das von der Leistung jedes denkenden Vermögens gilt; die Leistung des zugleich praktischen Denkvermögens aber ist jene Wahrheit, die mit dem rechten Begehren übereinstimmt.

Prinzip des Handelns im Sinne des bewegenden, nicht des Zweckprinzips ist die Willenswahl und das der Willenswahl das Begehren und der Begriff oder die Vorstellung des Zweckes. Darum gibt es keine Willenswahl ohne Verstand und Denken einerseits und sittlichen Habitus anderseits. Denn richtiges und verkehrtes Handeln ist ohne Denken und ein Verhältnis zur Sittlichkeit unmöglich.

Das Denken für sich allein aber bewegt nichts, sondern nur das auf einen bestimmten Zweck gerichtete, praktische Denken. (1139b) Von ihm hängt auch das hervorbringende Denken ab. Denn jeder Hervorbringende bringt sein Erzeugnis für einen bestimmten Zweck hervor, und was er hervorbringt, ist nicht schlechthin Zweck, sondern nur mit Bezug auf ein anderes und für ein anderes. Wohl aber ist die Handlung und ihr Inhalt schlechthin Zweck. Denn das richtige Handeln ist ein absoluter Zweck, und auf diesen ist auch das Begehren gerichtet. Und so ist denn die Willenswahl entweder begehrendes Denken oder denkendes Begehren, und das Prinzip, in dem sich beides, Denken und Begehren, verbunden findet, ist der Mensch.

Gegenstand der Willenswahl oder des Vorsatzes kann kein Vergangenes sein, wie sich denn niemand zum Vorsatz macht, Ilium zerstört zu haben; man überlegt oder beratschlagt ja auch nicht über Vergangenes, sondern über Zukünftiges und Mögliches, Vergangenes aber kann unmöglich nicht geschehen sein, weshalb Agathon treffend sagt:

 

»Denn dies allein, sogar der Gottheit bleibts versagt,

Ungeschehn zu machen, was einmal geschehen ist«.

 

So ist denn die Leistung beider vernünftigen Teile die Wahrheitserkenntnis, und in den Beschaffenheiten, vermöge deren sie die Wahrheit am besten erkennen, haben wir jene Tugenden zu erblicken, die beiden eigen sein können.


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