Drittes Kapitel.
[Gesetzliche Gerechtigkeit als vollkommene Tugend]


Da uns der Gesetzesübertreter als ungerecht und der Beobachter des Gesetzes als gerecht galt, so ist offenbar alles Gesetzliche in einem bestimmten Sinne gerecht und Recht. Was nämlich von der gesetzgebenden Gewalt vorgeschrieben ist, ist gesetzlich, und jede gesetzliche Vorschrift bezeichnen wir als gerecht oder Recht. Die Gesetze handeln aber von allem, indem sie entweder den allgemeinen Nutzen verfolgen oder den Nutzen der Aristokraten oder den der Herrscher, mögen sie dies dank ihrer Tugend oder sonst einer auszeichnenden Eigenschaft sein. Und so nennen wir in einem Sinne gerecht was in der staatlichen Gemeinschaft die Glückseligkeit und ihre Bestandteile hervorbringt und erhält.

Das Gesetz schreibt aber vor, sowohl die Werke des Mutigen zu verrichten, z. B. seinen Posten nicht zu verlassen, nicht zu fliehen, nicht die Waffen von sich zu werfen, als auch die Werke des Mäßigen, z. B. nicht Ehebruch zu treiben und keine Gewalttat zu begehen, und die des Sanftmütigen, z. B. nicht zu schlagen oder zu schimpfen. Und ebenso verfährt es bezüglich der anderen Tugenden und Laster, hier gebietend, dort verbietend, und zwar tut es das in der rechten Weise, wenn es selbst gut gefaßt ist, dagegen schlechter, wenn es nachlässig, wie aus dem Stegreif entworfen ist.

Diese Gerechtigkeit ist die vollkommene Tugend, nicht die vollkommene Tugend überhaupt, sondern so weit sie auf andere Bezug hat – deshalb gilt sie oft für die vorzüglichste unter den Tugenden, für eine Tugend so wunderbar schön, dass nicht der Abend- und nicht der Morgenstern gleich ihr erglänzt; daher auch das Sprichwort: in der Gerechtigkeit ist jegliche Tugend enthalten; und für die vollkommenste Tugend, weil sie die Anwendung der vollkommenen Tugend ist –. Vollkommen ist sie aber, weil ihr Inhaber die Tugend auch gegen andere ausüben kann und nicht bloß für sich selbst. Denn viele können die Tugend in ihren eigenen Angelegenheiten ausüben, aber in dem, was auf andere Bezug hat, können sie es nicht. Darum scheint es ein treffender Spruch von Bias zu sein: »Erst das Amt zeigt den Mann«. (1130a) Denn der Amtsinhaber hat es ja mit anderen zu tun und gehört der Gemeinschaft an. Eben darum scheint auch die Gerechtigkeit allein unter den Tugenden ein fremdes Gut zu sein, weil sie sich auf andere bezieht. Denn sie tut, was anderen frommt, sei es dem Herrscher, sei es dem gemeinen Wesen. Der Schlimmste ist also wer seine Schlechtigkeit sowohl gegen sich selbst wie gegen seine Freunde kehrt, der Beste aber wer seine Tugend nicht sowohl sich als anderen zugute kommen läßt. Denn dieses ist ein schweres Ding.

Die gesetzliche Gerechtigkeit ist demnach klein bloßer Teil der Tugend, sondern sie ganz, und die ihr entgegengesetzte Ungerechtigkeit kein Teil der Schlechtigkeit, sondern wieder sie ganz.

Wie die Tugend und diese Gerechtigkeit sich trotzdem unterscheiden, erhellt aus dem Gesagten. Beide sind dasselbe, ihr Begriff aber ist nicht derselbe, sondern insofern es sich um die Beziehung auf andere handelt, redet man von Gerechtigkeit, insofern es sich aber um einen Habitus handelt, der sich in den Akten der Gerechtigkeit auswirkt, redet man von Tugend schlechthin.


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