Viertes Kapitel.
[Habitus des Wählens und Handelns]
Hiernächst müssen wir untersuchen, was die Tugend ist.
Da es dreierlei psychische Phänomene gibt: Affekte, Vermögen und jene dauernden Beschaffenheiten, die man Habitus nennt, so wird die Tugend von diesen dreien eines sein müssen. Als Affekte bezeichnen wir: Begierde, Zorn, Furcht, Zuversicht, Neid, Freude, Liebe, Haß, Sehnsucht, Eifersucht, Mitleid, überhaupt alles, was mit Lust oder Unlust verbunden ist; als Vermögen das, was uns für diese Gefühle empfänglich macht, was uns z. B. befähigt, Zorn oder Trauer oder Mitleid zu empfinden; als Habitus endlich das, was macht, dass wir uns in Bezug auf die Affekte richtig oder unrichtig verhalten, wie wir uns z. B. in Bezug auf den Zorn unrichtig verhalten, wenn er zu stark oder zu schwach ist, richtig dagegen, wenn er die rechte Mitte hält, und ähnliches gilt für die übrigen Affekte.
Affekte nun sind die Tugenden und die Laster nicht, weil wir nicht wegen der Affekte tugendhaft oder lasterhaft genannt werden, wohl aber wegen der Tugenden und Laster, und weil wir nicht wegen der Affekte gelobt und getadelt werden – denn man wird nicht gelobt; wenn man sich fürchtet oder wenn man zornig wird, und nicht getadelt, wenn man einfach zornig wird, (1106a) sondern wenn es auf bestimmte Weise geschieht –, wohl aber wird uns wegen der Tugenden und der Laster Lob oder Tadel zuteil. Ferner werden wir zornig und geraten wir in Furcht ohne vorausgegangene Selbstbestimmung, die Tugenden aber sind Akte der Selbstbestimmung oder können doch von diesem Akte nicht getrennt werden. Überdies sagen wir, dass wir durch die Affekte bewegt, durch die Tugenden und Laster aber nicht bewegt, sondern in eine bestimmte bleibende Disposition gebracht werden.
Aus diesen Gründen sind die Tugenden auch keine Vermögen. Denn wir heißen nicht darum gut oder böse, weil wir das bloße Vermögen der Affekte besitzen, noch werden wir darum gelobt oder getadelt. Überdies sind die Vermögen Naturgabe, gut oder böse aber sind wir nicht von Natur, wie wir schon oben ausgeführt haben.
Wenn nun die Tugenden keine Affekte und auch keine Vermögen sind, so bleibt nur übrig, dass sie ein Habitus sind.
So hätten wir denn erklärt, was die Tugend der Gattung nach ist.