A posteriori - Kant, Cohen, Natorp


KANT versteht unter dem a priori nicht etwas, was zeitlich der Erfahrung vorangeht - denn alle Erkenntnis beginnt mit der Erfahrung, er faßt es nicht psychologisch, sondern logisch, transzendental (s. d.) auf. Apriorisch ist alles Formale (s. d.) der Erkenntnis, das, was einen Erkenntnisstoff erst zur Erkenntnis, zur Erfahrung gestaltet, was also schon aller Erfahrung bedingend, konstituierend zugrundeliegt. »Apriorisch« nennt E. 1) absolut gewisse, allgemeingültige, nicht induktiv gewonnene Erkenntnisse (Urteile), 2) die formalen Elemente solcher Erkenntnisse, d.h. die Anschauungs- und Denkformen als solche, 3) die subjektiven Bedingungen derselben im erkennenden Ich, in dem sie »angelegt« sind, um aber erst in und mit der Erfahrung zum Bewußtsein zu kommen.

A priori ist, »was durch und durch apodiktische Gewißheit, d. i. absolute Notwendigkeit, bei sich führt, also auf keinen Erfahrungsgründen beruht, mithin ein reines Produkt der Vernunft, überdem aber durch und durch synthetisch ist« (Proleg. § 6). »Solche allgemeine Erkenntnisse nun, die zugleich den Charakter der inneren Notwendigkeit haben, müssen, von der Erfahrung unabhängig, vor sich selbst klar und gewiß sein; man nennt sie daher Erkenntnisse a priori, da im Gegenteil das, was lediglich von der Erfahrung erborgt ist, nur a posteriori oder empirisch erkannt wird« (Kr. d. r. V. S. 35). »Gänzlich a priori, unabhängig von der Erfahrung entstanden,... weil sie machen, daß man von den Gegenständen, die den Sinnen erscheinen, mehr sagen kann,... als bloße Erfahrung lehren würde, und daß Behauptungen wahre Allgemeinheit und strenge Notwendigkeit enthalten, dergleichen die bloß empirische Erkenntnis nicht liefern kann« (l.c. S. 35 f.). Erkenntnisse a priori, »die schlechterdings von aller Erfahrung unabhängig stattfinden. Ihnen sind empirische Erkenntnisse, oder solche, die nur a posteriori, d. i. durch Erfahrung, möglich sind, entgegengesetzt« (l.c. S. 647, 648). Das a priori wird a priori erkannt, denn »was... die Beschaffenheit derselben [der Erkenntnisse], Urteile a priori zu sein, betrifft, so kündigt sich die von selbst durch das Bewußtsein ihrer Notwendigkeit an« (Üb. d. Fortschr. d. Met. S. 113). Das Apriorische liegt allein in der Form (s. d.) der Erkenntnis, gilt nur für (mögliche) Erfahrungen (entgegen dem ontologistischen Rationalismus). Es ist uns »keine Erkenntnis a priori möglich, als lediglich von Gegenständen möglicher Erfahrung« (Kr. d. r. V. S. 64S). »Eine Anschauung, die a priori möglich sein soll, kann nur die Form betreffen, unter welcher der Gegenstand angeschaut wird; denn das heißt, etwas sieh a priori vorstellen, sieh vor der Wahrnehmung, d. i. dem empirischen Bewußtsein, und unabhängig von denselben eine Vorstellung davon machen.« »Es ist aber nicht die Form des Objekts, wie es an sich beschaffen ist, sondern die des Subjekts, nämlich des Sinnes, welcher Art Vorstellung er fähig ist, welche die Anschauung a priori möglich macht. Denn sollte diese Form von den Objekten selbst hergenommen werden, so müßten wir dieses vorher wahrnehmen und könnten uns nur in dieser Wahrnehmung der Beschaffenheit derselben bewußt werden« (l.c. S. 105). A priori ist alles, was in unserer Anschauung oder in unserem Denken »niemals weggelassen« werden kann (Proleg. § 9), und das fällt zusammen mit dem, was aus der formenden Tätigkeit des Bewußtseins constant entspringt (l.c. §13). Apriorische Elemente enthalten die Mathematik, die Physik, die Ethik, die Ästhetik, die (kritisch gehandhabte) Metaphysik (Kr. d. r. V. S. 651 ff.). So sind z.B. die Anschauungsformen (s. d.) a priori, sie müssen »im Gemüte a priori bereit liegen, und dahero abgesondert von aller Empfindung können betrachtet werden« (l.c. S. 49). Angeboren sind die apriorischen Formen nicht, wohl aber »ursprünglich erworben«, das Erkenntnisvermögen »bringt sie aus sieh selbst a priori zustande«. Nur der Grund, »der es möglich macht, daß die gedachten Vorstellungen so und nicht anders entstehen und noch dazu auf Objekte, die noch nicht gegeben sind, bezogen werden können«, ist angeboren (Üb. e. Entdeck. S. 43). Das a priori der Erkenntnis erklärt die Apodiktizität, die absolute Notwendigkeit von Urteilen (s. d.), die Sicherheit und Exaktheit der Mathematik und Physik. Apriorität und Subjektivität (s. d.) der Erkenntnisformen sind für Kant Wechselbegriffe, eins ergibt sich aus dem andern. Es ist unter reinem, absolutema priori das völlig Empiriefreie zu verstehen. »Von den Erkenntnissen a priori heißen aber diejenigen rein, denen gar nichts Empirisches beigemischt ist« (Kr. d. r. V. S. 648; vgl. VAIHINGER, Comm. I, 168). Die Urquelle des Apriorischen ist die Einheit der »transzendentalen Apperzeption« (s. d.). Auf den Unterschied des Kantschen a priori vom »Angeboren« machen aufmerksam H. COHEN (K.s Theor. d. Erf. S. 83), O. LIEBMANN, EUCKEN (Gesch. d. Grundbegr. S. 101), VAIHINGER (Comm. I, 54) u. a.; auch schon KIESEWETTER (Gr. d. Log. S. 269). Die Lehre vom a priori erfährt nach Kant eine teils qualitative, teils quantitative Ausgestaltung. Qualitativ, insofern der Begriff des Apriorischen bald im rein logischen, bald im psychologischen oder psychophysischen, bald im vermittelnden Sinne bestimmt wird. Quantitativ, indem das Apriorische entweder in einer Reihe von Formen oder aber in der allgemeinen Gesetzmäßigkeit des erkennenden Bewußtseins allein erblickt wird. Die Gegner jedes a priori im Kantschen Sinne suchen die Notwendigkeit (s. d.) der Axiome auf Induktion (s. d.) zurückzuführen.

Das a priori bei Kantianern, besonders in der logischen Auffassung: Nach BECK besteht das a priori im »ursprünglichen Vorstellen«, in verknüpfender Bewußtseinstätigkeit (Erl. Ausg. III, 144, 371). REINHOLD nennt die Formen der Vorstellung »a priori«, »sofern sie notwendige Bestandteile jeder Vorstellung sind, die, als Vermögen, vor aller Vorstellung im erkennenden Subjekte anzutreffen sind« (Vers. e. neu. Theor. S. 291 f.). Die Bedingungen der Raum- und Zeitanschauung sind der in uns liegende »Stoff a priori« (l.c. S. 305 f.). Nach CHR. E. SCHMID ist a priori »alles, sowohl insofern es stets in denknotwendigen Beziehungen gedacht erscheint, als auch insofern die Zukunft nur aus der Vergangenheit zu schöpfen möglich ist; alles dagegen a posteriori, insofern nur die Zukunft und auch die nicht mit voller Sicherheit bestimmen kann, daß die Zukunft eine richtige war«. »A priori«: a. »vergleichungsweise a priori«, b. »schlechterdings a priori, unabhängig von aller Erfahrung« (»komparativ« - »rein« a priori) (Emp. Psych. S. 17 f., 21). KRUG nennt a priori das »Ursprüngliche im Ich, welches Bedingung aller Erfahrung ist« (Org. S. 96, 101). Die apriorischen Formen sind keine »Fachwerke«, sondern gesetzmäßige Handlungsweisen des Subjektes (Fundam. S. 151, 168). A priori ist nach MAIMON die »allgemeine Erkenntnis,... die die Form oder Bedingung aller besonderen ist, folglich derselben vorausgehen muß, deren Bedingung aber keine besondere Erkenntnis ist« (Vers. üb. d. Tr. S. 55). Nach KIESEWETTER ist die Allgemeinheit und Notwendigkeit des a priori in der »unveränderlichen Natur des Erkenntnisvermögens selbst gegründet« (Gr. d. Log. S. 269). FRIES meint, das a priori werde durch innere Erfahrung gefunden (Neue Kr. I2, S. 31 ff.). A priori ist die ursprüngliche Selbsttätigkeit des Bewußtseins, die sich in den Anschauungs- und Denkformen bekundet und zwingende Notwendigkeit in daß Erkennen bringt (l.c. S. 73 ff.). Die reinen Anschauungen a priori sind »ursprüngliche Arten der Verknüpfung der Mannigfaltigkeit, welche nicht aus der Empfindung entspringen« (l.c. S. 177). Von neueren Kantianern betont den rein logischen Charakter des a priori besonders H. COHEN (Kants Theor. d. Erf.2, S. 135). Das a priori ist nicht angeboren, psychologisch entwickeln sich die Anschauungsformen, logisch aber sind sie und die Denkformen ursprünglich, d.h. »constituierende«, notwendig-allgemeine Factoren aller Erfahrung, active Verknüpfungsweisen des Gegebenen zu Erfahrungen, die sie erst möglich machen; in der Einheit des Selbstbewußtseins haben sie ihre Quelle (l.c. S. 83, 214 ff., 246). O. LIEBMANN betont, Apriorität sei nicht psychologische Subjektivität (Anal. d. Wirkl.2, S. 97). »A priori ist nichts anderes, als das für uns und für jede homogene Intelligenz streng Allgemeine und Notwendige, das Nicht-anders-zu-denkende« (l.c. S. 98). »Aus bloßer Vernunftanlage ohne Vernunftmaterial, aus blindem und taubem a priori ohne Empfindung wird freilich nie eine Intelligenz; aber aus bloßen Sensationen ohne a priori ebensowenig« (l.c. S. 209). Es gibt herrschende Grundformen und Normen des erkennenden Bewußtseins (l.c. S. 222), sie sind das Prius von Körper und »Seele« (l.c. S. 223). Nicht psychologisch, sondern ein »Modus der Evidenz« ist das a priori, es ist »metakosmisch« (l.c. S. 239 f.). Ererbte Vorstellungen kann es dabei auch geben. Das a priori besteht in den höchsten Gesetzen, welche jede Intelligenz beherrschen, bedingen. Ähnlich NATORP, A. KRAUSE, K. VORLÄNDER, LASSWITZ, WINDELBAND: »Keine Norm kommt... anders als durch empirische Vermittelungen zum Bewußtsein: ihre Apriorität hat mit psychologischer Priorität nichts zu tun, ihre Unbegründbarkeit ist nicht empirische Ursprünglichkeit. Aber die Geschichte ihres Entstehens ist immer nur diejenige ihrer Veranlassungen« (Prälud. S. 284). VOLKELT unterscheidet ein erkenntnistheoretisches und ein psychologisches a priori: »Unter jenem ist die unbezweifelbare Tatsache zu verstehen, daß die eigentümlichen Functionen des Denkens nicht durch die Erfahrung gegeben sind; also daß das Denken Leistungen vollzieht, zu denen es die Erfahrung als solche nicht berechtigt, deren es unter bloßer Zugrundelegung der Erfahrung niemals fähig wäre.« »Dagegen will die psychologische Apriorität mehr besagen: sie hat den Sinn, daß die Funktionen des Denkens aus der Erfahrung überhaupt nicht entsprungen sein können, daß es neben der Erfahrung besondere und ursprüngliche Funktionen gibt, deren Inbegriff man eben als Denken bezeichnet« (Erf. u. Denk. S. 494). Beide Arten der Apriorität bestehen wirklich (l.c. S. 496). Die Gesetzmäßigkeit des Denkens und seiner Functionen ist apriorisch (l.c. S. 499, 501). G. THIELE versteht unter a priori so viel wie »durch die Gesetzmäßigkeit des Denkens, durch das Wesen des Erkenntnisvermögens... bedingt« (Phil. d. Selbstbew. S. 16 68, 357 f.). RIEHL betont, bei Kant bezeichne »a priori« »ein begriffliches (nicht zeitliches) Verhältnis zwischen zwei Vorstellungen« (Ph. Kr. II, 1, S. 9). Das a priori liegt zuletzt in der Identität (s. d.) des Selbstbewußtseins, die sich in den Anschauungs- und Denkformen am unmittelbarsten betätigt (l.c. II 1, S. 103, 78, I, S. 384). »Jede Vorstellung ist ein Produkt der besondern Erfahrungen in die Gesetze der allgemeinen, welche letztere allein, erkenntnistheoretisch genommen, apriorisch ist« (l.c. S. 8).


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