Wahrheit - Hegel, Bolzano, Lotze, Husserl

In die Übereinstimmung der Vorstellung mit dem Sein setzt die Wahrheit ANCILLON (Üb. Glaub. u. Wiss. S. 35). Nach G. E SCHULZE ist zur Wahrheit eines Gedankens dessen »Übereinstimmung oder Zusammentreffen mit dem dadurch Gedachten erforderlich« (Üb. d. menschl. Erk. S.105). Nach G. HERMES ist Wahrheit »Übereinstimmung des Urteils mit dem in der Wirklichkeit vorhandenen Verhältnisse zwischen Subjekt und Prädikat« (Einl. in d. christl. Theol. I2, 82 ff.). Als Übereinstimmung zwischen Denken und Sein bestimmt die Wahrheit BIUNDE (Üb. Wahrh. im Erkennen, S 11). Wahr ist die Erkenntnis, »welche dem Sein, den Beschaffenheiten und Verhältnissen der Dinge genau entspricht« (Empir. Psychol. I 2, 245). Wahrheit ist »Übereinstimmung des Gedachten mit dem Gedanken, des Erkannten mit der Erkenntnis« (l. c. I 2, 268). Nicht durch Vergleichung, sondern durch »Anerkennen« wird Wahrheit konstatiert (l. c. S. 275 ff.), durch logischen Beifall, Ergreifen der Wirklichkeit des Gedachten (l. c. S. 279). »In dem Anerkennen liegt... für uns der eigentliche Koinzidenzpunkt des subjektiven und Objektiven, des Idealen und Realen« (l. c. S. 281). - SCHELING bestimmt »Jede Affirmation oder... jede Erkenntnis ist wahr, die mittelbar oder unmittelbar die absolute Identität des Objektiven und subjektiven ausspricht« (WW. I 6, 4 7). Nach SUABEDISSEN ist Wahrheit »die Wirklichkeit in der Beziehung auf das Denken« (Grdz. d. Lehre von d. Mensch. S. 133). Als Übereinstimmung des Idealen und Realen fassen die Wahrheit auf SCHLEIERMACHER, H. RITTER TRENDELENBURG u. a. Nach REINHOLD ist die Wahrheit an sich »die von aller Vorstellung unabhängige Übereinstimmung des von der Vorstellung unabhängigen Seins, folglich die Übereinstimmung des Seins mit sich selbst« (Was ist die Wahrh.? S. 22). Nach HEGEL ist die Wahrheit dies, »daß die Objektivität dem Begriffe entspricht, - nicht daß äußerliche Dinge meinen Vorstellungen entsprechen. das sind nur richtige Vorstellungen, die ich dieser habe« (Encykl. § 213). Die Idee (s. d.) ist die Wahrheit selbst (l. c. § 213). »Wenn die Wahrheit, im subjektiven Sinne, die Übereinstimmung der Vorstellung mit dem Gegenstande ist: so heißt das Wahre im objektiven Sinne die Übereinstimmung des Objekts, der Sache mit sich selbst, daß ihre Realität ihrem Begriffe angemessen ist. Der Begriff ist sogleich die wahrhafte Idee, die göttliche Idee des Universums, die allein das Wirkliche. So ist Gott allein die Wahrheit« (Naturphilos. S. 22 f.). »Der Gedanke, der wesentlich Gedanke ist, ist an und für sich, ist ewig. Das, was wahrhaft ist, ist nur im Gedanken enthalten, ist wahr nicht nur heute und morgen, sondern außer aller Zeit. und insofern es in der Zeit ist, ist es immer und zu jeder Zeit wahr« (Philos. d. Gesch. I, 16. vgl. S. 33. vgl. K. ROSENKRANZ, Syst. d. Wissensch. S. 590 ff.. MICHELET, Zeitschr. »Der Gedanke« VII, 17). Nach HINRICHS ist das Wahre »die vermittelte Einheit des Dinges mit seinem Begriffe« (Grundlin. d. Philos. d. Log. S. 183 f.). ZEISING erklärt: »Die Wahrheit ist die Idee als Begriff, die als seiend aufgefaßte Vollkommenheit« (Ästhet. Forsch. S. 81. vgl. G. BIEDERMANN, Philos. als Begriffswissensch. I, 135 ff.. CHALYBAEUS, Wissenschaftslehre S. 382 ff.). - Daß alle Wahrheiten »ewig Wahrheiten« seien, betont CHR. KRAUSE (Vorles. S. 125). Die Unabhängigkeit der Wahrheiten vom menschlichen Denken lehrt V. COUSIN: »Les vérités qu'atteint la raison, à l'aide des principes universels et nécessaires dont elle at pourvue, sont des vérités absolues. la raison ne les fait point, elle les découvre« (Du vrai p. 33). »Les vérités absolues sont donc indépendantes de l'expérience et de la conscience, et en même temps elles sont attestées par l'expérience et la conscience« (ib.). »En fait, quand nous parlons de la vérité des principes universels et nécessaires, nous ne croyons pas qu'il ne soient vrais que pour nous: nous les croyons vrais en eux-mêmes, et vrais encore quand notre esprit ne serait pas là pour les concevoir. Nous les considérons comme indépendants de nous« (l.. c. p. 58). Die absoluten Wahrheiten »supposent un être absolu comme elles, où elles ont leur dernier fondement« (l. c. p. 70 f.). - BOLZANO versteht unter »Wahrheiten an sich« »Wahrheiten, abgesehen davon, ob sie von jemand erkannt oder nicht erkannt werden« (Wissenschaftslehre I, § 20, S. 81 ff.). Wahrheit an sich oder objektive Wahrheit nennt Bolzano »jeden beliebigen Satz, der etwas so, wie es ist, aussagt, wobei ich unbestimmt lasse, ob dieser Satz von irgend jemand wirklich gedacht oder ausgesprochen sei oder nicht« (l. c. I, § 25, S. 111 ff.). Die Wahrheit an sich hat kein Dasein in der Zeit (ib.). Sie ist nicht durch ein Denken gesetzt. Gott erkennt sie, weil sie ist (l. c. S. 115). Logische Wahrheit ist die »gedachte oder erkannte Wahrheit« (l. c. I, § 29, S. 143). »Begriffswahrheiten« sind Wahrheiten, die bloß aus reinen Begriffen bestehen (l. c. Il, § 133, S. 33). - Nach LOTZE sind Wahrheiten nicht, gelten nur (Met.2, S. 3. Mikrok. III2, 579).»Sie schweben nicht zwischen, außer oder über dem Seienden. als Zusammenhangsformen mannigfaltiger Zustände sind sie vorhanden nur in dem Denken eines Denkenden, indem es denkt, oder in dem Wirken eines Seienden in dem Augenblick seines Wirkens« (Mikrok. III2, 579). Ein Reich ewiger Wahrheiten außer oder vor Gott kann nicht bestehen (ib.). Die Summe der ewigen Wahrheiten ist die Wirkungsweise der Allmacht (l. c. S. 585). Wirklich ist die Wahrheit nur »als Natur und ewige Gewohnheit des höchsten Wirkens« (ib.). Wahrheit ist (formal) »Folgerichtigkeit« (l. c. II2, 299). - Einen überzeitlichen Charakter hat die Wahrheit nach UPHUES. Sie ist »das einzig Ewige und darum. Allgemeingültige«, der eigentliche Erkenntnisgegenstand (Zur Krisis in d. Log. S. 79). Die Wahrheit ist unabhängig von uns vorhanden, sie wird beim Erkennen von uns in Besitz genommen (l. c. S. 80). Der Gegenstand ist das, worüber wir urteilen, die Beziehung des Prädikats auf ihn ist daß, was wir urteilen oder meinen. »Die im Urteil gedanklich ausgerückte Beziehung in diesem Sinne als das von uns Gemeinte und Geurteilte ist es, was wir eine Wahrheit oder die Wahrheit nennen« (l. c. S. 81). Alle unsere Erkenntnisse, alle Wahrheiten bestehen in Beziehungen, und diese bilden »ein großes, aus ineinander greifenden Gliedern bestehendes Ganzes«. »Es gibt mit andere n Worten keine Einzelwahrheit, keine getrennt für sich bestehenden Einzelwahrheiten, alle Wahrheiten hängen aufs engste miteinander zusammen und bilden sozusagen nur eine Wahrheit oder, wenn man lieber will, ein System, ein Reich von Wahrheiten. Diese eine Wahrheit oder dieses System, dieses Reich der Wahrheit ist der eigentliche Gegenstand des Erkennens.« Dieses Wahrheitssystem muß einen objektiven Grund haben. Es ist dies das überzeitliche Bewußtsein, das alle diese Wahrheiten überzeitlich umfaßt. denn eine Wahrheit ahne ein Erkennen kann es nicht geben (l. c. S. 84 f.). »So nur erklärt sich, wie alle Wahrheiten Geltung haben, auch wenn sie noch von keinem der Zeit unterworfenen Bewußtsein erkannt sind oder nicht mehr von irgend einem solchen Bewußtsein erkannt werden.« »Mit dem überzeitlichen Bewußtsein ist alle Wahrheit von Ewigkeit verbunden, sie befindet sich in seinem Besitz, ist in ihm vorhanden.« Wir erkennen die Wahrheit »nur durch Teilnahme an dem überzeitlichen Bewußtsein«, durch »Erleuchtung« (l. c. S. 85 f.. vgl. Grdz. d. Erkenntnistheorie). Gegen den Relativismus wendet sich auch HUSSERL. »Was wahr ist, ist absolut, ist ›an sich‹ wahr. die Wahrheit ist identisch eine« (Log. 1 Unters. I, 117). Die Tatsache ist individuell, zeitlich bestimmt, die Wahrheit überzeitlich (l. c. S. 119). Der Urteilsinhalt ist nicht der Urteilsakt. jener kann derselbe sein, während dieser wechselt (l. c. S. 119). »Die Erlebnisse sind reale Einzelheiten, zeitlich bestimmt, werdend und vergehend. Die Wahrheit aber ist ›ewig‹ oder besser: sie ist eine Idee und als solche überzeitlich« (l. c. S. 128), kein Phänomen unter Phänomenen (ib.). Sie ist »eine Geltungseinheit im unzeitlichen Reiche der Ideen« (l. c. S. 130). »Es kann nichts sein, ohne so oder so bestimmt zu sein. und daß es ist und so bestimmt ist, dies ist eben die Wahrheit an sich, welche das notwendige Korrelat des Seins an sich bindet« (l. c. S. 229). Der Charakter der Wahrheit kommt »nicht dem flüchtigen Erkenntnisphänomen zu, sondern dem identischen Inhalte desselben, dem Idealen oder Allgemeinen« (l. c. I, 150 f.). Die Wahrheit ist ein Sachverhalt, eine Identität, »die volle Übereinstimmung zwischen Gemeintem und Gegebenem als solchem« (l. c. II, 594 f). Evidenz ist das Erlebnis der Wahrheit (l. c. I, 190). »Das Erlebnis der Zusammenstimmung zwischen der Meinung und dem Gegenwärtigen, Erlebten, das sie meint, zwischen dem erlebten Sinn der Aussage und dem erlebten Sachverhalt ist die Evidenz, und die Idee dieser Zusammenstimmung die Wahrheit« (l. c. S. 190 f.). Auf die objektive Wahrheit geht die reine Logik (l. c. S. 162). Die »individuellen« Wahrheiten enthalten Behauptungen über wirkliche Existenz individueller Einzelheiten, die »generellen« erschließen nur die begrifflich mögliche Existenz von Individuellem (l. c. I, 232). M. PALÁGYI betont, die Wahrheit lasse sich nicht vom Denken abtrennen (Kant u. Bolzano, S. 36 ff.. vgl. Der Streit, S. 30 ff.). Aber die Wahrheit ist nicht vergänglich, zeitlich wie das Phänomen des Denkaktes, der Impressionen. Erkenntnis ist »Erfassen des Ewigen im Vergänglichen« (Log. auf d. Scheidewege 63. 87). Jedes wahre Urteil (s. d.) ist ein »Ewigkeitserlebnis«, »womit nur ausgesprochen ist, daß die Wahrheit, die man erlebt, eine ewige Wahrheit ist«. »Die Tatsache vergeht, ihre Wahrheit aber besteht.« »Alle wahren konstatierenden Urteile sind... für die Ewigkeit gefällt.« Im Urteil sprechen wir die ewige Wahrheit des Stattfindens der vergänglichen Tatsache aus (l. c. S. 164). Jede Wahrheit hat den Charakter der Allgemeinheit (l. c. S. 167), ist ein Gesetz, das allen auf sie bezüglichen Urteilen gemeinsam ist (l. c. S. 169), wodurch der Unterschied von Urteilen a posteriori und a priori aufgehoben wird (ib.). Die Tatsache kann vergehen, die Wahrheit ist unvergänglich heißt, »da, dieser Tatsache im Reiche alles Geschehens eine unverrückbare, ewige Stellung zukommt, aus der sie durch keine andere Tatsache verdrängt werden kann« (l. c. S. 173). - »Das Urteil erfaßt vom Eindruck so viel, als ihm die dem. Eindruck unmittelbar auf dem Fuße folgende Erinnerung darbietet, und sobald nur das Urteil diese Aufgabe erfüllt, ist es dem Eindruck auch gerecht geworden, d.h. es ist wahr« (l. c. S. 186). - RABIER betont: »Le vrai... n'existe que dans l'intelligence. En dehors de l'intelligence, la vérité n'existe pas. mais seulement la réalité« (Psychol. p. 487). Nach SIGWART ist es eine Fiction, als könne ein Urteil wahr sein, abgesehen davon, daß irgend eine Intelligenz dieses Urteil denkt (Log. I2, 8, 238 ff., 382 ff.). - Vgl. TWARDOWSKI, Arch. f. Philos., 1902.


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