Wahrheit - Nietzsche, Simmel

Den biologisch-subjektiven Charakter der Wahrheit betont NIETZSCHE. Wahrheit und Gegensätze haben ihre Einheit in ihrer Nützlichkeit. durch diese und auch »falsche« Urteile wertvoll (WW. VII, 1, 1. 1, 2). »Die Falschheit eines Urteils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urteil« (WW. VII 1, 4). Die »falschesten« Urteile, z.B. die synthetischen Urteile a priori, sind oft die unentbehrlichsten, für die Lebenserhaltung wichtigsten (WW. VII 1, 11). »Wahr« (im neuen Sinne) ist eben nichts anderes, als was den Zwecken des Lebens dient, das Lebenerhaltende, Lebenfördernde, Arterhaltende, Züchtende. Wahrheit ist biologische Nützlichkeit einer Erkenntnis (WW. VI I 1, 3. 1, 4), im Hinblick auf die Förderung des »Willens zur Macht« (s. d.). Absolute Wahrheit, Wahrheit an sich gibt es nicht, da der Begriff »Wahrheit« sich nur auf die Beziehungen der Erkennenden zu ihrer Vorstellungswelt und untereinander erstreckt (XV, 302). »Woran ich zugrunde gehe, das ist für mich nicht wahr, das heißt es ist eine falsche Relation meines Wesens zu anderen Dingen. Denn es gibt nur individuelle Wahrheiten, - eine absolute Relation ist Unsinn« (XI 6, 208). Gattungsmäßige Wahrheiten entstehen durch Konvention, indem fixiert wird, was als »Wahrheit« gelten soll, d.h. »es wir, eine gleichmäßig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden«. »Wahr« heißt nun jeder Satz, der für die Dinge die allgemein eingeführten Namen gebraucht (X 2, 1, S. 161. 3, 2, S. 185). Wahrhaft sein heißt »herdenweise zu lügen« (X, S. 165 f., 170). Da Wahrheit das als nützlich Erwiesene, Bewährte, Ererbte (Nietzsche spricht von »einverleibten Irrtümern«, die als »wahr« gelten) ist, so beruht sie auf Wertung. Der Wert einer Erkenntnis ist das, was ihre »Wahrheit« verbürgt. Die Wahrheiten sind gleichwohl Illusionen, Metaphern, Relationen, Anthropomorphismen (XV 2, 2. X 2, 1, S. 166). - In anderer Weise gibt SIMMEL dem Wahrheitsbegriff eine biologische Fassung. Wahr nennen wir nach ihm jene Vorstellungen, »die, als reale Kräfte oder Bewegungen in uns wirksam, uns zu nützlichem Verhalten veranlassen«. »Darum gibt es so viel prinzipielle Wahrheiten, wie es prinzipiell verschiedene Organisationen und Lebensanforderungen gibt« (Phil. d. Geld. S. 61 ff., 66). Durch Selektion haben sich bestimmte, nützliche Vorstellungen als wahr erhalten, eingebürgert (ib.). »Wir nennen diejenigen Vorstellungen wahr, die sich als Motive des zweckmäßigen, lebenfördernden Handelns erwiesen haben« (Üb. eine Bezieh. d. Selektionslehre zur Erkenntn., Arch. f. system. Philos. I, 1895, S. 34 ff., 36, 39). Wahrheit ist »die Majorität der miteinander zusammenhängenden und übereinstimmenden Bewußtseinsinhalte«, »die Vorstellung der Gattung« (Einl. in d. Moralwiss. I, 3 ff.). Auch Irrtümer, Illusionen können »höchst zweckmäßig und Resultate hoher Anpassung« sein (l. c. I, 111). »Die Nützlichkeit des Erkennens erzeugt zugleich für uns die Gegenstände des Erkennens« (Arch. f. system. Philos. I, 45). Nach ULRICI ist Wahrheit eine ethische Kategorie. Ihr Inhalt ist der erkannte Grund und Zweck eines Dinges als Ziel seines Werdens und Wirkens (Gott u. d. Natur, S. 601 f.. vgl. SCHOLKMANN, Grundlin. ein. Philos. d. Christent. S. 224). Die ästhetische Wahrheit besteht nach SIMMEL, darin, »daß das Kunstwerk als Ganzes diejenige Erwartung erfüllt, die ein Teil seiner hervorruft« (Einl. in d. Moralwiss. II, 94. vgl. u. a. GRILLPARZER, WW. XV, 132 f.). - Das Kriterium der Wahrheit wird verschieden bestimmt, bald durch die Evidenz (s. d.) des Denkens, oder die der Wahrnehmung, bald durch die Widerspruchslosigkeit und Einstimmigkeit des Denkens, bald durch die Einstimmigkeit der Denkenden untereinander, bald durch die Bestätigung der Urteile seitens der Erfahrung, bald durch die Nützlichkeit der Urteile (s. oben).

Im vernünftigen Denken, das seiner selbst gewiß ist, im logos, im Begriffe erblicken die Rationalisten (s. d.) älterer Schule das Kriterium der Wahrheit. Die Menge ist in der Unwahrheit befangen, behauptet PARMENIDES, indem sie Veränderung und Werden für wirklich hält, während Wahrheit nur dem reinen Seinsgedanken zukomme (Parm., Lehrged. 8, 38. vgl. Kühnemann, S. 54). Nach HERAKLIT liegt die Wahrheit im vernünftigen, vom allgemeinen logos erleuchteten Denken, im ungetrübten Geiste des Forschenden, während die Sinne (F. d.) allein »schlechte Zeugen« sind (Fragm. 72 f., 1, 108, 3, 27, 92, 5). ANAXAGORAS soll den logos (Sext. Emp. adv. Math. VII, 90 f.), EMPEDOKLES den orthos logos (die »rechte Vernunft«) als Kriterium der Wahrheit angesehen haben (l. c. VII, 122). Von den Stoikern älterer Schule betrachteten einige den orthos logos als Kriterium (Diog. L. VII, 1, 54. Cicero, Acad. I. 11. Epiktet, Diss. IV, 8, 2). SENECA bemerkt gleichfalls: »Quicquid vera ratio commendat, solidum et aeternum est« (Ep. 66, 30). Den »consensus gentium«, die Einstimmigkeit der Denkenden, betrachtet als ein Wahrheitskriterium CICERO.

In der unmittelbaren Gewißheit des Gedachten, in der Evidenz erblickt schon THEOPHRAST (im enarges) die Wahrheit (Sext. Embir. adv. Math. VII, 218). Solche Evidenz schreiben vor ihm die Kyrenaiker den Empfindungen und Gefühlen zu. Kritêria einai ta pathê kai mona katalambanesthai kai adiapheukta tynchanein (Sext. Emp. adv. Math. VII, 191. Cicero, Acad. II, 7, 20). Ein gemeinsames Kriterium für die Menschen gibt es nicht oude kritêrion phasin einai koinon anthrôpôn (Sext. Emp. adv. Math. VII, 195). EPIKUR lehrt: kritêria tês alêtheias einai tas aisthêseis kai prolêpseis kai ta pathê, seine Schüler auch tas phantastikas epibolas tês dianoias (Diog. L. X, 31). Geht doch jeder Begriff aus der Wahrnehmung hervor (X, 62).

Auch die Stoiker geben ein psychologisches Wahrheitskriterium an. es liegt in der phantasia katalêptikê, in der mit einem Wirklichkeitscharakter versehenen, von einem Objekt ausgehenden Vorstellung, die uns »packt« und unsere Anerkennung, unsere ' synkatathesis (s. d.) erzwingt. Kritêrion einai tês alêtheias tên katalêptikên phantasian mêden echousan enstêma (Sext. Emp. VII, 253). K. ph - toutesti tên apo hyparchontos (Diog. L. VII 1, 54. Cicero, Acad. I, 11, Epiktet, Diss. IV, 8, 12). CHRYSIPPUS bezeichnet aisthêsis und prolêpsis als Kriterien (Diog. L. VII 1, 54). Von ARKESILAUS (Sext. Emp. Pyrrh. hyp. I, 233 ff.) und KARNEADES (Sext. Emp. adv. Math. VII, 416 ff.) wird bestritten, daß die kataleptische Vorstellung ein Kennzeichen der Wahrheit sei.

Die Selbstgewißheit des Gedachten, sowie die Einstimmigkeit der Denkenden macht zum Wahrheitskriterium AUGUSTINUS (De lit.. arb. II, 10, 16. De civ. Dei VIII, 6. De ver. rel. 30, 56. De trin. XIV,- 15, 21). - In die Klarheit und Deutlichkeit des Gedachten verlegt das Wahrheitskriterium DESCARTES. »Video pro regula generali posse statuere, illud omne esse verum quod valde clare et distincte percipio« (Med. III, p. 15). Die klar-deutlichen Begriffe kommen von Gott, können daher nicht falsch sein. »Sequitur ideas nostras sive notiones, cum in omni eo in quo sunt clarae et distinctae, entia quaedam sint, atque a Deo procedant, non posse in eo non esse veras« Das Falsche in unseren Begriffen beruht nur auf unserer Unvollkommenheit, beruht auf einer Privation (De meth. p. 24 f.). Der wahrhafte Gott (»Deus, qui summe perfectus et verax est«) kann uns nicht täuschen wollen (l. c. p. 25). Gott hat uns das »lumen naturale« (s. d.), das natürliche Erkenntnisund Beurteilungsvermögen gegeben (Princ. ph. I, 29). »Atque hinc sequitur, lumen naturae, sive cognoscendi facultatem, a Deo nobis datam, nullum unquam obiectum posse attingere, quod non sit verum, quatenus ab ipsa attingitur, hoc est, quatenus clare et distincte percipitur« (p. 30). LEIBNIZ meint, dieses Kriterium sei allein genommen nutzlos, die Wahrheit müsse schon als möglich feststehen (Erdm p. 79 f.). Nach SPINOZA ist die Wahrheit von einem unmittelbaren Wahrheitsbewußtsein begleitet (vgl. SUAREZ: »scientia debet esse perfectum intellectuale lumen, quod seipsum manifestat«, Met. disp. 1, set. 4). Sie hat ihre Norm in sich selbst, unterscheidet sich unmittelbar vom Irrtum. »Nemo, qui veram habet ideam, ignorat veram ideam summam certitudinem involvere. Veram namque habere ideam nihil aliud significat, quam perfecte sive optime rem cognoscere... Et quaeso, quis scire potest, se rem aliquam intelligere, nisi prius rem intelligat? hoc est, quis potest scire, se de aliqua re certum esse, nisi prius de ea re certus sit? Deinde quid idea vera clarius et certius dari potest, quod norma sit veritatis? Sane sicut lux se ipsam et tenebras manifestat, sic veritas norma sui et falsi« (Eth. I, prop. XLIII, schol., Em. int. 25, 39). - Nach GASSENDI sind Wahrnehmung und Denken Wahrheitskriterien (Synt. philos. I, 2, C. 5). Nach HERBERT von CHERBURY ist die höchste Wahrheitenform der »consensus universalis« (De verit.). - Nach TSCHIRNHAUSEN ist das Kriterium der Wahrheit die Begreiflichkeit (»quod potest concipi«, Medic. ment. p. 34 f.). - W. KING erklärt: »Neque aliud nobis criterium veritatis quaerendum, quam quod conceptus menti obiectus de re aliqua assensum vi sua extorqueat, sicut aliud criterium non est eorum, quae sensibus percipiuntur, quam quod obiectum praesentia sua in nos agens sentire etiam volentes cogat« (De orig. mali p. 14).

Nach KANT gibt es nur ein formal-logisches Kriterium: »Übereinstimmung einer Erkenntnis mit den allgemeinen und formalen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft«. Es ist dies »die conditio sine qua non, mithin die negative Bedingung aller Wahrheit: weiter aber kann die Logik nicht gehen, und den Irrtum, der nicht die Form, sondern den Inhalt betrifft, kann die Logik durch keinen Probierstein entdecken« (Kr. d. r. V. S. 82). »Denn obgleich eine Erkenntnis der logischen Form völlig gemäß sein möchte, d. i: sich selbst nicht widerspreche, so kann sie doch noch immer dem Gegenstande widersprechen« (ib.). »Wenn Wahrheit in der Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstande besteht, so muß dadurch dieser Gegenstand von andern unterschieden werden. denn eine Erkenntnis ist falsch, wenn sie mit dem Gegenstande, worauf sie bezogen wird, nicht übereinstimmt, ob sie gleich etwas enthält, was wohl von andern Gegenständen gelten könnte. Nun würde ein allgemeines Kriterium der Wahrheit dasjenige sein, welches von allen Erkenntnissen, ohne Unterschied ihrer Gegenstände, gültig wäre. Es ist aber klar, daß, da man bei demselben von allem Inhalt der Erkenntnis (Beziehung auf ihr Objekt) abstrahiert, und Wahrheit gerade diesen Inhalt angeht, es ganz unmöglich und ungereimt sei, nach einem Merkmale der Wahrheit dieses Inhalts der Erkenntnisse zu fragen, und also ein hinreichendes und doch zugleich allgemeines Kennzeichen der Wahrheit unmöglich angegeben werden könne« (S. 81 f.).

Nach J. G. FICHTE ist das Kriterium der theoretischen Wahrheit nicht selbst wieder theoretischer Art (Syst. d. Sittenlehre S. 220 f.). - Nach ROSMINI ist daß angeborene Wahrheitskriterium die vom Intellekt angeschaute Idee des Seienden, welche die Erkenntnisse wahr macht (Log. § 1039 ff.). Der Irrtum beruht auf der Voreiligkeit des Urteilswillens (l. c. § 1088 ff.). J. ST. MILL erklärt: »It is impossible to separate the idea of judgment from the idea of the truth of a judgment« (Examin. p. 348). Nach HARMS ist das Kriterium der Wahrheit dem Wiesen immanent (Log. S. 111 f.). So auch WITTE (Wesen d. Seele S. 72 ff.). Die Selbstgewißheit des Denkens ist der letzte Quell aller Wahrheit (l. c. S. 72). Ähnlich SIGWART (Log. I2, 382). - Nach RABIER ist keine Evidenz unfehlbar (Log. p. 369 ff.). Nur die Evidenz »après la preuve« ißt von Gültigkeit (l. c. p. 378). Das Urteil muß in Übereinstimmung mit anderen Urteilen stehen (ib.). BRADLEY erklärt: »Ultimate reality is such that it does not contradict itself: here is an absolute criterion« (Appear. and Real. ch. 13, p. 136. vgl. ch. 24). Nach B. CARNERI ist wahr »dasjenige, wogegen ein gegründeter Widerspruch nicht erhoben werden kann« (Sittl. u. Darwin. S. 93). Von der Wahrheit fordern wir ewige Geltung (l. c. S. 91 f.). GLOGAU erklärt: Als Wahrheit erweist sich eine Meinung, »die sich in allen Entwicklungen als fest und unerschütterlich mit sich selber identisch ergeben hat« (Abr. II, 65). Nach J. BAHNSEN ist umgekehrt nicht die Widerspruchslosigkeit, sondern der Widerspruch (s. d.) das Wahrheitskriterium (Der Widerspr. I, 54 ff., 198). Nach G. GERBER. ist ein Erkenntnisakt wahr, wenn er die Prüfung unseres Denkens besteht (Das Ich, S. 307. vgl. BAIN, Log. I, 22). Nach SCHUBERT-SOLDERN gibt es kein Kriterium der Wahrheit (Gr. ein. Erk. S. 160 f.). W. JERUSALEM erklärt: »Das Eintreffen der Voraussagen ist das wichtigste und das entscheidende Kriterium für die Wahrheit des Urteiles. Wir nennen es das objektive Kriterium.« Wo dies nicht möglich ist, müssen wir uns mit dem »intersubjektiven Kriterium«, der »Zustimmung der Denkgenossen« begnügen (Einl. in d. Philos.2, S. 91 f.).

Über wahre Erkenntnis s. Erkenntnis, Skeptizismus u. a. - Nach NICOLAUS CUSANS ist die »praecisa veritas« »incomprehensibilis«. Betreffs der Urwahrheit haben wir nur Konjekturen (s. d.) (De doct. ignor. I, 3. De coniect. I, 1). - Vgl. FERRI, Dell' idea dell' essere, 1888. R. SEYDL:, Der Schlüssel zum objekt. Erkennen, 1889, u. a. - Vgl. Erkenntnis, Wissen, Urteil, Skeptizismus, Rationalismus, Fürwahrhalten, Evidenz, A priori, Axiom, Realität, Gewißheit, Gültigkeit, Tugend, Relativismus, Subjektivismus, Ontologismus.


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