Mathematik (mathêmatikê, Wissenschaft): Wissenschaft von den Größen, Quantitäten (s. d.). Sie ist eine Anwendung der logischen Denktätigkeit und der logischen Gesetze auf allgemeinste Inhalte des Denkens, eine höchst abstrakte Wissenschaft. In den logischen Funktionen und Gesetzen sowie in der Eigenart der Anschauungsformen, besonders des Raumes (s. d.), liegt die Quelle der Sicherheit und Evidenz der mathematischen Axiome (s. d.) und Sätze. Da die mathematischen Operationen konsequente Anwendungen der Denkfunktionen, die in aller Erfahrung die gleichen bleiben müssen, auf die Inhalte der Erfahrung sind, so gelten die mathematischen Prinzipien für alle mögliche Erfahrung und alle Erfahrungsobjekte, auf die sie sich überhaupt beziehen, im vorhinein, a priori, mit Notwendigkeit.
Der Rationalismus (s. d.) wertet oft das mathematisch-demonstrative Verfahren so hoch, daß er es auf die Philosophie (Metaphysik) zu übertragen sucht. Dem Empirismus wiederum gilt die Mathematik als formales Hülfsmittel zur Erforschung der erfahrungsmäßig gegebenen Wirklichkeit. Während der Apriorismus (s. d.) die Axiome der Mathematik als a priori in den Anschauungsformen gegründet betrachtet, will sie der Empirismus aus Erfahrung und Induktion (s. d.) ableiten. Die Pythagoreer werten die mathematischen Prinzipien (Zahlen, s. d.) als Seinsprinzipien. Nach PLATO stehen die mathematischen Dinge in der Mitte zwischen den immer werdenden, nie seienden Sinnendingen und den ewig seienden Ideen. Die Mathematik leitet zur Philosophie, zur Dialektik (a d.) an (vgl. Rep. 525 D, 527 A; Phileb. 56, 57, 58 A). Unter allen Wissenschaften (außer der Dialektik) hat die Mathematik die größte Exaktheit und Gewißheit. Gegen die Trennung des Mathematischen vom Sinnlichen polemisiert ARISTOTELES (Met. II, 2, 998 a 7 squ., XII 2, 1076b 11 squ.).
Erkenntnistheoretische Bedeutung erhält die Mathematik wieder durch die Forschungen eines KOPEBNIKUS, KEPLER, GALILEI. Das Urbild aller Exaktheit und Sicherheit des Erkennens, der Klarheit und Deutlichkeit, erblickt in der reinen Mathematik DESCARTES (Medit. V). Das mathematische Erkennen enthält etwas Überempirisches (Rép. aux cinq obj., Oeuvr. publ. par Cousin II, p. 290). So auch nach LEIBNIZ (Nouv. Ess. I, ch. 1; IV, ch. 17; Math. WW. VII, 17 ff.). - SPINOZA stellt sein philosophisches System geradezu »more geametrico« dar; »rationes, Dei existentiam et animae a corpore distinctionem probantes, more geometrico dispositae« schon bei DESCARTES (Append. zu den Medit.). Das mathematisch-beweisende Verfahren schätzt auch TSCHIRNHAUSEN, und auch CHR. WOLF wendet es philosophisch an. - RÜDIGER betont hingegen den Unterschied von mathematischer und philosophischer Demonstration; jene geht vom Möglichen, diese vom Realen aus. Nach BERKELEY ist die Mathematik keineswegs frei von Irrtümern (Princ. CXVIII). HUME betrachtet die Mathematik als eine demonstrativ-apriorische, analytische, deduktive Wissenschaft (s. Demonstration). Nach MENDELSSOHN gründet die Mathematik ihre Gewißheit auf das allgemeine Axiom, daß nichts zugleich sein und nicht sein könne (Abh. üb. d. Evid. S. 13), auf den Satz des Widerspruchs (ib.). In der Mathematik überhaupt werden unsere Begriffe von der Größe, in der Geometrie die Begriffe von der Ausdehnung entwickelt und auseinandergesetzt (l.c. S. 13 f.). Die Mathematik ist eine analytische Wissenschaft (l.c. S. 14). Die Gewißheit der geometrischen Wahrheiten stützt sich nur »auf die unveränderliche Identität eines eingewickelten Begriffs mit den abgeleiteten entwickelten Begriffen« (l.c. S. 35 f.). Aber das gilt nur von der »reinen theoretischen Mathematik.«. »Sobald wir von einer geometrischen Wahrheit in der Ausübung Gebrauch machen..., so muß ein Erfahrungssatz zum Grunde gelegt werden, welcher aussagt, daß diese oder jene Figur, Zahl u.s.w. wirklich vorhanden sei« (l.c. S. 36).
KANT erklärt in der Schrift »De mundi sens. et intellig. forma...« die reine Mathematik als das Muster der höchsten Gewißheit; indem sie die Form der sinnlichen Erkenntnis behandelt, ist sie das Organon jeder sinnlichen und deutlichen Erkenntnis (l.c. sct. II, § 12). In der »Krit. d. rein. Vern.« betont er das Gleiche, lehrt die apriorische (s. d.) Grundlage der mathematischen Axiome (s. d.) und die synthetische (s. d.) Natur der mathematischen Grundsätze. Reine Mathematik ist nur möglich, weil es apriorische, notwendige Bedingungen aller Erfahrung, Raum und Zeit (s. d.) gibt. Auf die Metaphysik kann die »mathematische Methode« nicht angewandt werden. NOVALIS sieht im Mathematischen den realisierten Verstand. Nach J. J. WAGNER sind alle Verhältnisse mathematische Verhältnisse. Die Mathematik ist das eigentliche Organ der Erkenntnis (Mathemat. Philos. 1811). - SCHOPENHAUER verlangt (im Gegensatze zur begrifflich-deduktiven EUKLIDschen Mathematik) »die Zurückführung jeder logischen Begründung auf eine anschauliche«). Bei Euklid erfährt man nicht, warum das Demonstrierte so und nicht anders ist. Die mathematische Erklärung und Gewißheit fußt auf dem Satz vom Grunde (s. d.) (Welt a. W. u. V. I. Bd., § 15; II. Bd., C. 13). J. ST. MILL betont die induktive Grundlage der Mathematik (s. Axiom). R. SHUTE hält die mathematischen Gesetze für bloß relativ, für menschlich bedingt (Discourse on truth p. 264 f., 289).
Nach O. CASPARI entwickelt die Mathematik, die sich zum Prinzip der Philosophie erhebt, »eine Metaphysik schlimmster Art« (Grund- und Lebensfrag. S. 38). »Reine Ebene«, »reiner Raum« u.s.w. sind metaphysische Voraussetzungen der Mathematik (l.c. S. 39). Die sogen. reine Mathematik ist in Wahrheit eine »streng analytische, somit auch ihrem begrifflichen Wesen nach eine rein metaphysische Wissenschaft«. Sie »vollführt alle ihre Konstruktionen nur auf Grundlage einer Abstraktion, welche erlaubt, alle ihre Sätze und Folgerungen mit Hülfe des Satzes vom Widerspruch zu beweisen« (l.c. S. 4C). Nach WUNDT hat die Mathematik die Aufgabe, »die denkbaren Gebilde der reinen Anschauung, sowie die auf Grund der reinen Anschauung vollziehbaren formalen Begriffsconstructionen in Bezug auf alle ihre Eigenschaften und wechselseitigen Relationen einer erschöpfenden Untersuchung zu unterwerfen«. Sie ist eine rein logische Wissenschaft (Log. II2 1, S. 88 ff.). Die mathematischen Axiome sind durch Induktion entstanden (l.c. S. 114 ff.). Nach F. SCHULTZE hat die Mathematik apriorische Fundamente (Philos. d. Naturwiss. II, 118 ff.). »Die reinen, mathematischen Anschauungen der geometrischen Gebilde und ebenso die reinen und abstrakten Anschauungen der Zahlen ent- und bestehen aus dem Empfindungsmaterial des Gemeingefühls; aus ihm konstruiert der kausal verknüpfende Geist seine mathematisch reinen Formgebilde oder Anschauungen« (l.c. II, 320). Nach H. COHEN muß auf Mathematik alles reduziert werden können, was irgend als Naturwirklichkeit soll behauptet werden können, wenngleich nicht alle Eigentümlichkeiten der letzteren ohne Rest in Mathematik aufgehen (Princ. d. Infin. S. 143). Der Begriff des Infinitesimalen ist der Träger der mathematischen Naturerkenntnis (s. Unendlich). Nach G. HEYMAN sind die arithmetischen Sätze analytisch (Ges. u. Elem. d. wissensch. Denk. S. 115 ff., 125 f.). Nach VACHEROT ist die Mathematik »la science des rapports abstraits ou extérieurs des choses, telles que l'imagination nous les représente« (Met. III, p. 211). Nach KROMAN ist in der Mathematik die Anschauung das produzierende, der Satz der Identität das kontrollierende Prinzip (Unsere Naturerk. S. 151 ff.). Die Mathematik ist eine apriorische Wissenschaft wie die Logik, d.h. ein »System von allgemeingültigen und allgemeinen Gewißheiten und Genauigkeiten«, eine Ideal- oder Formwissenschaft wie die Logik (l.c. S. 139, 143). M. PALÁGYI nennt die Mathematik die »Wissenschaft von der neutralen Besinnung«, weil in den mathematischen Urteilen kein Unterschied zwischen dem Subjekte und dem Prädikate gemacht wird und das Identitätsprinzip die Gestalt des Prinzips der Gleichheit annimmt (Die Log. auf d. Scheidewege S. 270 ff.). Da die Mathematik die Objekte völlig durch Symbole zu ersetzen vermag, ist sie die symbolische Wissenschaft par excellence. »Trotz ihrer großen Selbstherrlichkeit darf sie jedoch den lebendigen Kontrakt einerseits mit der Physik, anderseits mit der Logik (Metaphysik) nicht aufgeben... Sie ist ihrem ganzen Wesen nach die haarscharfe Grenze zwischen Physik und Metaphysik« (l.c. S. 273 f.). Sie ist gewissermaßen das Surrogat der absoluten (der Zeit nicht bedürftigen) Erkenntnis (l.c. S. 274), indem sie von allen Attributen des Vergänglichen absieht (l.c. S. 275). Vgl. F. BACON, De dignit. III, 6; E. WEIGEL, Philos. mathem. 1693; CHALYBAEUS, Wissenschaftslehre S. 120 f.; J. DUHAMEL, Des méthodes dans les sciences de raisonnement 1866/72; EHRENFELS, Zur Philos. d. Mathem., Vierteljahrsschr. f. w. Philos. 15. Bd., S. 285 ff.; G. F. LIPPS, Philos. Stud. IX - XII; HUSSERL, Log. d. Mathem.; CANTOR, Vorlesung. üb. d. Gesch. d. Mathem. 1894/1900; BAUMANN, Lehren von Raum, Zeit und Mathem.; SIGWART, Log. II9, 41 ff. Vgl. Metamathematik, Zahl, Raum, Psychophysik, Axiome, Realismus, Nominalismus, Unendlichkeit.
Vergleiche ferner:
- Mathematik (Kirchner: Wörterb. d. phil. Grundbegr.)
- Die pythagoreische Zahlenlehre (Vorländer, Gesch. d. Phil.)
- Mathematics (Peirce, Principles of Phil.)
- The Divisions of Mathematics (Peirce, Principles of Phil.)