Mitleid

Mitleid (eleos, misericordia, commiseratio) ist eine Art des Mitgefühls, das Mitfühlen des Leides, der Trauer, der Unlust anderer durch lebhafte Vorstellung der Lage dieser, unter Voraussetzung des Verständnisses für die Situation und die Organisation anderer, welche letztere der eigenen nicht zu unähnlich sein darf. Es knüpft sich dann an die Vorstellung des fremden Leides eigene Unlust, Betrübtheit, die in der Regel zu altruistischen Handlungen oder doch zum Streben dazu führt.

Das Mitleid ist nach ARISTOTELES lypê tis epi phainomenô kakô phthartikô kai lypêrô tou anaxiou tynchanein, ho kan autos prosdokêseien an pathein, ê tôn auton tina. kai touto, hotan plêsion phainêtai (Rethor. II, 8, 2); eleos und nemesis sind pathê êthous chrêstou l.c. II, 9, 1). Mitleid und Furcht werden durch die Tragödie (s. d.) erweckt. Gegen das weichliche Mitleid sind die Stoiker (vgl. Stob. Ecl. II 6, 180: eleos de lypên epi tô dokounti anaxiôs kakopathein CICERO definiert: »Misericordia est aegritudo ex miseria alterius, iniuria laborantis« (Tusc. disp. IV, 8, 17). - Als sittlich wertet das Mitleid besonders das Christentum, auch schon der Buddhismus.

Nach HOBBES ist das Mitleid »dolor ob calamitatem alienam« (Leviath. I, 6). DESCARTES definiert: »Commiseratio est species tristitiae, amori mixtae aut benevolentiae erga illos, quos aliquid mali pati videmus, quo cos indignos iudicamus« (Pass. an. III, 185). SPINOZA definiert das Mitleid als »tristitia orta ex alterius damno«, als »tristitia concomitante idea mali, quod alteri, quem nobis similem esse imaginamur, evenit« (Eth. III, prop. XXII, schol.; l.c. aff. def. XVIII). »Ex eo, quod rem nobis similem et quam nullo affectu prosecuti samus, aliquo affectu affici imaginamur, eo ipso simili affectu afficimur« (l.c. prop. XXVII). »Rem, cuius nos miseret, a miseria, quantum possamus, liberare conabimur« (l.c. coroll. III). Das (theoretische) Mitleid ist, als ein die Macht des Ich vermindernder Affekt (s. d.), schlecht und für den vernünftig-sittlichen Menschen unnötig: » Commiseratio in homine, qui ex ductu rationis vivit, per se mala et inutilis est.« »Commiseratio enim tristitia est, ac proinde per se mala.« »Hinc sequitur, quod homo, qui ex dictamine rationis vivit, conatur, quantum potest efficere, ne commiseratione tangatur.« »Qui recte novit, omnia ex naturae divinae necessitate sequi et secundam aeternas leges et regulas fieri, is sane nihil reperiet, quod odio, risu aut contemptu dignum sit, nec cuiusquam miserebitur; sed quantum humana fert virtus, conabitur bene agere, ut aiunt, et laetari. Huc accedit, quod is, qui commiserationis affectu facile tangitur et alterius miseria vel lacrimis movetur, saepe aliquid agit, cuius postea ipsum poenitet; tam quia ex affcetu nihil agimus, quod certo scimus bonum esse, quam quia facile lacrimis decipimur. Atque hic expresse loquor de homine, qui ex ductu rationis vivit. Nam qui nec ratione, nec commiseratione movetur, ut aliis auxilio sit, is recte inhumanus appellatur; nam homini dissimilis esse videtur« (l.c. schol.). CHR. WOLF bestimmt: »Das Mitvergnügen und die Traurigkeit über eines andern Unglück heißet Mitleiden« (Vern. Ged. I, § 461; vgl. Psychol. empir. § 687). Nach MENDELSSOHN ist das Mitleid »eine vermischte Empfindung, die aus der Liebe zu einem Gegenstande und aus der Unlust über dessen Unglück zusammengesetzt ist« (Br. üb. d. Empfind., WW. II 2, S. 26). LESSING erklärt dazu: »Denn da jede Liebe mit der Bereitwilligkeit verbunden ist, uns an die Stelle des Geliebten zu versetzen, so müssen wir alle Arten von Leiden mit der geliebten Person teilen, welches man sehr nachdrücklich Mitleiden nennt« (Hamburg. Dramaturg. 74). Nach PLATNER ist »Mitleidigkeit« »tätige Teilnehmung an jedem Schmerze lebendiger Wesen Überhaupt« (Philos. Aphor. II, § 989). ROUSSEAU erklärt das Mitleid als ein Sichversetzen in die Lage der leidenden Person, durch Identification unserer selbst mit dem Leidenden: »En effet, comment nous laissons nous émouvoir à la pitié, si ne n'est en nous transportant hors de nous et nous identifiant avec l'animal souffrant, en quittant, pour ainsi dire, notre être pour prendre le sien?« (Emile 1788, T. II, 1. IV, p. 141). »La pitié est douce, parcequ'en se mettant à la place de celui qui souffre, on sent pourtant le plaisir de ne pas souffrir comme lui« (l.c. p. 138). Ähnlich bemerkt A. SMITH: »That this is the source of our fellow-feeling for the misery of others, that it is by changing places in fancy with sufferer, that we come either to conceive or to be affect by what he feels, may be demonstrated by many obvious observations, if it should not be thought sufficiently evident of itself« (Theory of moral sentim.7, 1792, p. 4). Ähnlich CASSINA (Saggio analitico sulla compassione 1788).

Eine geringe Meinung vom sittlichen Werte des Mitleids hat KANT: »Selbst dies Gefühl des Mitleids und der weichherzigen Teilnehmung, wenn es vor der Überlegung, was Pflicht sei, vorhergeht und Bestimmungsgrund wird, ist wohl denkenden Personen selbst lästig, bringt ihre überlegten Maximen in Verwirrung und bewirkt den Wunsch, ihrer entledigt und allein der gesetzgebenden Vernunft unterworfen zu sein« (Krit. d. prakt. Vern. I. T., II. B., 2. Hptst.). G. E. SCHULZE bemerkt: »Das Mitleid ändert sich der Erfahrung nach weit leichter und allgemeiner als die Mitfreude. Auch scheint jenes uneigennütziger zu sein. Inzwischen gewähren doch auch dessen Regungen ein Vergnügen besonderer Art.« »Im Mitleid und in der Mitfreude fühlt aber der Mensch bloß seinen eigenen innern Zustand, nicht den des andern, womit er sympathisiert« (Psych. Anthropol.2, S. 352). J. G. FICHTE betont: »Wer zufolge der Triebe der Sympathie, des Mitleids, der Menschenliebe handelt, handelt zwar legal, aber schlechthin nicht moralisch. Denn es widerspricht der Moral und ist unsittlich, sich blind treiben zu lassen« (Syst. d. Sittenl. S. 199). Auch NIETZSCHE verwirft das schwächliche, der » Sklavenmoral« (s. d.) angehörende Mitleid. SCHOPENHAUER hingegen macht es zum Prinzip seiner Ethik. Alles Sein, welches an sich Wille (H. d.) ist, leidet, in allen Wesen ist aber nur ein Sein; im anderen leiden wir selbst, denn der andere, das sind wir selbst (»tat twam asi«). Das Mitleid ist die »echte, d.h. uneigennützige Tugend«, Liebe ist Mitleid.. Es ist die »Basis aller freien Gerechtigkeit und aller echten Menschenliebe« (Grundl. d. Moral § 16). Mitleid ist die ganz unmittelbare »Teilnahme zunächst am Leiden eines Andern und dadurch an der Verhinderung oder Aufhebung dieses Leidens.« »Nur sofern eine Handlung aus ihm entsprungen ist, hat sie moralischen Wert... und jede aus irgend welchen andern Motiven hervorgehende hat keinen« (ib.). Im Mitleidsphänomen sehen wir »die Scheidewand, welche... Wesen von Wesen durchaus trennt, aufgehoben und das Nicht-Ich gewissermaßen zum Ich geworden« (ib.). Wir fühlen das Leiden nicht in unserer, sondern in der Person des andern. »Wir leiden mit ihm, also in ihm: wir fühlen seinen Schmerz als den seinen und haben nicht die Einbildung, daß es der unserige sei« (ib.). Dieser Vorgang ist »mysteriös«, er muß metaphysisch erklärt werden (l.c. § 18). Das Mitleid beruht demnach auf der Erkenntnis der Einheit und Identität aller Wesen (l.c. § 22; vgl. Neue Paralipom. S. 171). Nach WAITZ ist das Mitgefühl an und für sich noch nicht ethisch (Lehrb. d. Psychol S. 396 ff.). Nach TH. ZIEGLER ist nur das Mitleid des sittlichen Menschen sittlich (Das Gef.2, S. 170). Nach P. RÉE ist das Mitleid angeboren (Philos. S. 24). KREIBIG definiert das Mitleid als »eigene Unlust aus fremder Unlust« (Werttheor. S. 109). WUNDT bemerkt, daß das ursprüngliche Leid und das Mitleid qualitativ nicht miteinander übereinstimmen (Eth. S. 390 f.). W. STERN betont: »Das Mitleid ist... weder durch das Sich-versetzen in die Lage oder an die Stelle des Leidenden zu erklären, noch metaphysisch zu begründen. Es muß vielmehr genetisch begründet werden. Es ist das allmählich im Laufe sehr vieler Jahrtausende entstandene verletzte Gefühl der Zusammengehörigkeit mit allen anderen beseelten Wesen gegenüber den schädlichen Eingriffen der sowohl unbeseelten als auch beseelten objektiven Außenwelt ins psychische Leben« (Das Wesen des Mitleids S. 49; vgl. S. 34 f., 37, 39, 41, 43). Vgl. Sympathie.


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