Ästhetik - Herbart, Fechner, Lipps


Die formalistische Ästhetik hat ihren Begründer in HERBART. Dieser versteht unter »Ästhetik« die Wissenschaft von den Werturteilen überhaupt, also auch die Ethik (s. d.). Das Gefühl des Schönen entspringt aus formalen, inneren Verhältnissen zwischen unseren Vorstellungen, der Inhalt kommt erst secundär zur Geltung (Psych. a. Wiss. II). So auch R. ZIMMERMANN (Allg. Ästh. 1865). Das ästhetische Urteil als Kunsturteil bezieht sich auf die Formen der Objekte (l.c. § 351). Das Schöne als solches gefällt nur durch die Form (Stud. u. Krit. 1870, II, 252). So auch TH. VOGT (Form u. Gehalt in d. Ästh. 1865) und VOLKMANN (Lehrb. d. Psych. II4, 355). - Vermittelnd lehren KOESTLIN (Ästh. 1869) und SIEBECK: Zum Ästhetischen gehört zunächst eine anregende Gestaltenfülle, dann ein besonderer Inhalt (Das Wes. d. ästh. Ansch. 1875).

Entgegen der spekulativen oder vag empirischen »Ästhetik von oben« fordert FECHNER eine »Ästhetik von unten auf«, und zwar auf experimenteller Grundlage (Vorarbeiten bei ZEISING, Lehre vom »goldenen Schnitt«). Er unterscheidet zwischen »direktem« und »assoziativem« Factor des Ästhetischen. »Direkt... ist der Eindruck eines Gegenstandes, insofern er subjektiverseits von der angeborenen oder nur durch Aufmerksamkeit und Übung im Verkehr mit Gegenständen gleicher Art entwickelten und verfeinerten inneren Einrichtung abhängt, assoziativ, insofern er von einer Einrichtung abhängt, die dadurch entstanden ist, daß sich der Gegenstand wiederholt zu Verbindung und Beziehung mit gegebenen Gegenständen anderer Art dargeboten hat« (Vorsch. d. Ästh. I, S. 121). In verschiedener Weise wird die Ästhetik psychologisch begründet. LIPPS sieht im Schönen ein ästhetisch Wertvolles, einen Eigenwert (Kom. u. Humor S. 199). Die Kunst ist gerichtet »auf Erzeugung eines in sich selbst Wertvollen« (l.c. S. 209). Aller ästhetische Genuß »liegt schließlich einzig und allein in der Sympathie begründet« (l.c. S. 216). In der Kunst handelt es sich um »ästhetischen Schein« (Ausdruck schon bei SCHILLER, bedeutet bei ihm einen »Schein, der weder Realität vertreten will, noch von derselben vertreten zu werden braucht«, Ästh. Erz. 26). In der ästhetischen Anschauung beseelen wir das Objekt, legen ein ideelles Ich in es hinein (ästhetische »Einfühlung«) (Ästh. Einf., Zeitschr. f. Psych. u. Phys. 1900; Eth. Grundfr. S. 180). »Inhalt und Form eines Kunstwerkes sind jederzeit zwei untrennbare Seiten einer und derselben Sache« (Eth. Gr. S. 181). Die einzelnen Bedingungen des Ästhetischen sind aufzusuchen (vgl. Raumästh. 1897, Ästh. Faktoren d. Raumansch. 1891). Eine psychologische Fundierung der Musik enthält die »Tonpsychologie« von K. STUMPF (eine physiologische die »Lehre von den Tonempfindungen« von HELMHOLTZ). H. V. STEIN definiert die Ästhetik als »Lehre vom Gefühl« und »Lehre von den Kunstwerken« (Vorles. üb. Ästh. S. 1 f.). »Ästhetik soll das Kunstwerk mit dem gesamten geistigen Leben deutend und. erklärend in Beziehung setzen« (Entst. d. neuer. Ästh. S. 263). Das » Verweilen beim Eindruck als solchem« ist das Element des Ästhetischen (Vorles. S. 4; ähnlich R. WAHLE, D. Ganze d. Philos. S. 397 ff.). Der ästhetische Eindruck besteht in der Fülle normaler Tätigkeit (Vorles. üb. Ästh. S. 4). Die ungehinderte Ausübung der (triebartigen) Einheitsfunktion des Bewußtseins erweckt das ästhetische Wohlgefühl (l.c. S. 9). Unter »organischer Assoziation« ist die ästhetisch bedeutsame Assoziation zu verstehen (l.c. S. 14). Die Aufgabe aller Künste ist, »eine Sache zu bedeutendem Ausdruck zu bringen« (l.c. S. 19). Grundform des Ästhetischen ist das »freie Spiel der Vorstellungen« (l.c. S. 28). Eine Loslösung vom Begehren findet statt (l.c. S. 30). »Schön« = »ein Aufgehen im Schauen« (Entsteh. d. neuer. Ästh. S. 97). DILTHEY betont die »Steigerung der auffassenden Kräfte, die Erweiterung der Seele, ihre Entladung und Läuterung, wie sie das große Kunstwerk hervorbringt« (Deutsche Rundsch. 1892, S. 225; vgl. Die Einbildungskr. d. Dicht. S. 309). Nach HÖFFDING ist die Kunst eine »ideelle Fortsetzung der Naturentwicklung«, sie lehrt uns »die Augen aufmachen«, »sie auf die großen leitenden Züge heften und dadurch die Wirklichkeit besser verstehen« (Psychol.2, S. 250). Nach JODL stellt die Kunst die typischen Fälle der Wirklichkeit anschaulich dar (Psych. S. 156 ff.). J. A. HERZOG definiert das Ästhetische als das, »was reine Affekte erregt« (Was ist ästh.2, S. 55). Die reinen, ästhetischen Affekte sind schwächer als die gemeinen, unpersönlich (l.c. S. 39 ff.). Durch die Kunst wollen wir getäuscht sein (l.c. S. 65).

K. GROOS verbindet die psychologische mit der biologischen Interpretation des Ästhetischen. Er bringt das Ästhetische zum Spiel in Beziehung (Spiele d. Mensch. S. 348, vgl. S. 445 f.). Der ästhetische Genuß ist ein »spielendes sensorisches Erleben« (Spiele d. Mensch. S. 505), »das edelste Spiel, welches der Mensch kennt« (D. ästh. Genuß S. 14). Der Selbstzweck des Spiels (s. d.) liegt auch im ästhetischen Genuß vor (ib.). GROOS verbindet Lotzes und R. Vischers Theorie des innerlichen Miterlebens mit Schillers Lehre vom Spiel (l.c. S. 179). »Das innerliche Miterleben ist... das eigentliche Zentrum des ästhetischen Genießens« (l.c. S. 183). Die » Scheingefühle«, die den ästhetischen Schein begleiten, sind wirkliche, nicht bloß vorgestellte Gefühle (l.c. S. 209). Ästhetischer Schein ist »ein Product der Einbildungskraft, die sich von dem äußeren Gegenstand ein inneres Bild ablöst, welches sie nur dadurch erhalten kann, daß sie sich einseitig auf bestimmte Teile der Sinnesempfindung konzentriert« (Einl. in d. Ästh. S. 40). Nur der »herrschende Schein« ist ästhetisch (l.c. S. 45), er ist »innere Nachahmung« (l.c. S. 84). Die ästhetische Anschauung ist »eine innere Nachahmung des äußerlich Gegebenen, durch welche sich das Bewußtsein das innere Bild, den ästhetischen Schein erzeugt und in der Erzeugung dieses Scheins spielend verweilt« (l.c. S. 196). Die »ästhetische Illusion« ist »eine Täuschung, die ich selbst im freiwilligen Spiel der inneren Nachahmung erzeuge. Ich versetze mein Ich spielend in das fremde Objekt, und diese Selbstversetzung, die jeden leblosen Gegenstand personifiziert, gilt mir als bestehend, obwohl ich recht gut weiß, daß sie in Wirklichkeit nicht stattfindet« (l.c. S. 191). Drei Arten der ästhetischen Illusion (»ästhetische Realität« bei LIPPS) gibt es: »Illusion des Leihens, Kopie, Original-Illusion, Illusion des Miterlebens« (Ästh. Gen. S. 23, 213 ff.). Die »ästhetische Sympathie« beruht darauf, daß der gebotene Inhalt, dem wir eigene Zustände anschauend »leihen« (der Ausdruck ist von VISCHER, Ästh. II, 1, 27), mit unseren Neigungen, Bedürfnissen u.s.w. übereinstimmt. Daher ist der Inhalt des ästhetisch Wirksamen durch ererbte Triebe bestimmt. Die »monarchische Einrichtung« des Bewußtseins beeinflußt die künstlerische Darstellung; diese bedeutet der Natur gegenüber eine Erleichterung unserer Konzentration auf das ästhetisch Wertvolle. K. LANGE polemisiert gegen alle »metaphysisch-transzendentalen« sowie gegen die Theorien der »Einfühlung« und »Assoziation« (D. Wesen d. Kunst I, 4). Kern des künstlerischen Genusses ist die »bewußte Selbsttäuschung« (vgl. Die bew. Selbstt., 1895). Die Aufgabe der Kunstlehre ist die Ermittlung und Erklärung des »ästhetischen Gattungsinstincts« (Wes. d. K. S. 15). Form- und Inhaltsästhetik sind beide einseitig (l.c. S. 17). Die » Illusionstheorie« erblickt im psychischen Vorgang des ästhetischen Schauens selbst die unmittelbare Ursache der ästhetischen Lust (l.c. S. 18). Die ästhetische Illusion ist ein »ästhetisches Spiel«, »bewußte Selbsttäuschung« (l.c. S. 27), die einem Grundbedürfnis entgegenkommt (l.c. S. 28). In der Kraft der Illusion besteht das Realistische (l.c. S. 31). Die Ästhetik ist »die Wissenschaft von den ästhetischen Lustgefühlen«, den rezeptiven und produktiven (l.c. S. 33). Die Kunst hat sich aus dem Spiel entwickelt, ist eine besonders verfeinerte Form des Spiels (l.c. S. 50). Endziel der Kunst ist die »Steigerung und Vervollkommnung des Menschentums durch Vertiefung und Erweiterung der Anschauungen und Gefühle« (l.c. II, S. 57). Die ästhetische Lust beruht »lediglich auf der Stärke und Lebhaftigkeit der Illusion« (l.c. I, S. 81), entsteht »aus der in der Vorstellung vollzogenen Übersetzung des Toten ins Leben, der phantasiemäßigen Beseelung des in Wirklichkeit Unbeseelten« (l.c. S. 84). Ästhetische Beseelung ist »jede Anschauung eines toten Naturgebildes, bei der wir dasselbe in der Phantasie beleben« (l.c. II, 381). Die Illusionsgefühle sind gedämpfte, gemäßigte Gefühle, »Gefühlsvorstellungen« (Scheingefühle) (l.c. S. 100 ff.). Der Kunstgenuß liegt in dem »Widerspiel zweier einander eigentlich widersprechender Bewußtseinsinhalte, einerseits des Wissens von der Scheinhaftigkeit des Wahrgenommenen, anderseits des Glaubens an die Wirklichkeit« (l.c. S. 224); der ästhetische Genuß ist »die Folge einer gleichzeitigen Entstehung zweier Vorstellungsreihen, die sich eigentlich ausschließen« (l.c. S. 326, 334 = »Schaukeltheorie«). Die bewußte Selbsttäuschung ist »diejenige Form der geistigen Rezeption..., die dem Menschen erlaubt, in der verhältnismäßig kürzesten Zeit die verhältnismäßig größte Zahl von Vorstellungen und Gefühlen in sich aufzunehmen, ohne zu ermüden« (l.c. S. 345). Das Schöne ist »das, was Menschen mit richtiger und intensiver Naturanschauung in Illusion versetzt« (l.c. S. 54, 347, 349, 351, 357). Naturschön ist, »was, mit den denkbar geringsten Veränderungen in die Kunst übersetzt, eine ästhetische Wirkung hervorbringen würde« (l.c. II, 349). Das Spiel (s. d.) hat eine biologische und soziale Bedeutung, damit aber auch die Kunst. »Kunst ist jede Tätigkeit des Menschen, durch die er sich und andern ein von praktischen Interessen losgelöstes, auf einer bewußten Selbsttäuschung beruhendes Vergnügen bereitet und durch Erzeugung einer Anschauungs-, Gefühls- oder Kraftvorstellung zur Erweiterung und Vertiefung unseres geistigen und körperlichen Lebens und dadurch zur Erhaltung und Vervollkommnung der Gattung beiträgt« (l.c. II, 60). In der Form des Scheins ergibt sich ein Mittel der Ausgleichung der Einseitigkeiten menschlicher Kräfte und Fähigkeiten (l.c. S. 54 ff.).


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