Individuum

Individuum (das Unteilbare, gr. atomon): Einzelwesen, Einzelnes. Metaphysische Individuen sind Wesen, die an sich eine von anderen Wesen unterschiedene, gesonderte Existenzweise haben. Empirisches Individuum ist jedes durch das Denken als relativ selbständige, räumliche, zeitliche, kausale (Kraft-) Einheit Bestimmte. - Die menschlichen Individuen sind in steter Wechselwirkung mit der Gesamtheit, aus der sie sich ursprünglich herausdifferenzieren, um dann, besonders in den großen Individualitäten (»Eminenzen«, »führenden Geistern«, »Heroen«) auf die soziale Gemeinschaft zurückzuwirken. Das Individuum ist nicht älter als die Gesellschaft, bildet sich nur in ihr aus, wenngleich es einen ursprünglichen Kern hat, der nicht social, sondern psychologischmetaphysisch bedingt ist.

Der Begriff des Individuums wird schon von SENECA formuliert: »Quaedam separari a quibusdam non possunt, cohaerent, individua sunt« (De provid. 5). PORPHYR sagt (in der Isagog.): atoma legetai ta toiauta, hoti ex idiotêtôn synestêken hekaston, hô to athroisma ouk an ep' allon tinos pote to auto genoito tôn kata meros. BOËTHIUS: »Dicitur individuum, quod omnino secari non potest, ut unitas vel mens; dicitur individuum, quod ob soliditatem dividi nequit, ut adamas; dicitur individuum, cuius praedicatio in reliqua similia non convenit, ut Socrates« (Comm. zur Isagog. 1570, p. 65). Die Scholastiker verstehen unter dem Individuum das »ens omnimodo determinuatum«. THOMAS: »Individuum... est, quod est in se indistinctum, ab aliis vero distinctum« (Sum. th. I, 29, 4c). Nach DUNS SCOTUS ist die Individualität (»haecceïtas«) die »entitas positiva«.

THOMASIUS bestimmt: »Individuum est, quod constat ex proprietatibus, quarum collectio numquam in alio eadem esse potest« (EUCKEN, Grundbegr. S. 187). CHR. WOLF: »Individuum est, quod omnino determinatum est« (Ontol. § 227). »Quicquid sensu percipimus, sive externo, sive interno aut imaginamur, id singulare quid est soletque individuum appellari« (Philos. rat. § 43). Nach J. EBERT ist Individuum »ein wirkliches oder einzelnes Ding« (Vernunftl. § 8). PLATNER erklärt: »Ein Individuum im engern Verstande ist ein Körper, welcher sich unsern Sinnen darstellt als ein besonders, meistens auch durch Gestalt, Größe und Farbe bestimmtes Ganzes« (Philos. Aphor. I, § 215). »Ein Individuum im weiteren Verstande ist... ein Teil eines gewissen allgemeinen materiellen Ganzen« (l.c. § 216). J. E. ERDMANN nennt Individuum »ein geistiges Wesen, welches das natürliche Dasein hat, das man Leben nennt« (Gr. d. Psychol. § 13). C. H. WEISSE zählt das »Individuum« zu den Kategorien des Maßes. Es ist ein »Unteilbares, aber nicht Teilloses«, »bedingt durch sein Bestehen das Bestehen der Teile und wird umgekehrt durch die Teile bedingt«. Es ist »ein dialektisch aufgehobenes Quantum« (Grdz. d. Met. S. 216; ff.). ULRICI betont, »daß den Exemplaren, wenigstens der höheren Tierarten und namentlich des Menschengeschlechts, ein ursprünglicher Keim der Individualität einwohnt, der zwar unter der Gesetzeskraft des Gattungsbegriffs steht und daher gemäß dem normativen Typus desselben sich entwickelt, aber ihn in und mit seiner Entwicklung zugleich modifiziert« (Gott u. d. Natur S. 597). NÄGELI: »In physiologischer Hinsicht ist dasjenige als individuell zu betrachten, was selbständig für sieh leben kann« (Die Individual. in d. Nat. 1856). SCHUPPE erklärt: »Das konkret Wirkliche ist das Individuelle... Individuum ist etwas, was nicht etwa tatsächlich, sondern nach seinem Begriffe einzig ist, nur einmal da sein kann« (Log. S. 79 f.). »Concretum oder Individuum ist... zunächst nur der von einer Qualität erfüllte Raum- und Zeitteil« (l.c. S. 80; vgl. S. 115). Nach dem Pluralismus (s. d.) gibt es absolute Individuen. Der Pantheismus (s. d.) betont die Relativität, bezw. die Phänomenalität der Individuen als solcher. Nach SCHOPENHAUER ist jedes Individuum und dessen Lebenslauf »nur ein kurzer Traum« des unendlichen Willens zum Leben (W. a. W. u. V. I. Bd., § 58). Nach LOTZE sind alle Seelen individuell verschieden (Kl. Schr. I, 242; Met. S. 379). Nach J. H. FICHTE wird der Geist Individuum »durch eigene Tat, durch den ihn individualisierenden Trieb (Willen)« (Psychol. I, 140). Nach E. v. HARTMANN sind die Individuen »objektiv gesetzte Erscheinungen«, »gewollte Gedanken des Unbewußten oder bestimmte Willensakte desselben« (Philos. d. Unbew.3, S. 599). Nach A. DREWS ist die Realität des Individuums keine Substantialität. »Der Kern des Individuums ist der Wille, aber dieser ist ebensogut zugleich auch Wille eines absoluten Wesens. Das Individuum ist Erscheinung, aber das Wesen dieser Erscheinung ist in allen Individuen identisch« (Das Ich S. 316). Die Individuen sind »dienende Glieder zur Verwirklichung des absoluten Zweckes« (l.c. S. 320). - Die relative Selbständigkeit der Individuen betont O. CASPARI. Sie haben etwas relativ Undurchdringliches an sich, sind relativ autonom, bilden aber zusammen ein Weltsystem (»Constitutionalismus«, Zusammenh. d. Dinge S. 431 f.). L. W. STERN: »Jedes Individuum ist etwas Singuläres, ein einzig dastehendes, nirgends und niemals sonst vorhandenes Gebilde. An ihm betätigen sich wohl gewisse Gesetzmäßigkeiten, in ihm verkörpern sich wohl gewisse Typen, aber es geht nicht restlos auf in diesen Gesetzmäßigkeiten und Typen; stets bleibt noch ein Plus, durch welches es sich von anderen Individuen unterscheidet, die den gleichen Gesetzen und Typen unterliegen. Und dieser letzte Wesenskern, der da bewirkt, daß das Individuum ein Dieses und ein Solches, allen anderen durchaus Heterogenes vorstellt; er ist in fachwissenschaftlichen Begriffen unausdrückbar, unclassificierbar, incommensurabel. In diesem Sinne ist das Individuum ein Grenzbegriff, dem die theoretische Forschung zwar zustreben, den sie aber nie erreichen kann; es ist, so könnte man sagen, die Asymptote der Wissenschaft« (Üb. Psychol. d. individ. Differ. 1900, u. Beitr. zur Psychol. d. Aussage, I. H., S. 17).

Der historische Individualismus (s. d.) sieht in den großen Persönlichkeiten die eigentlichen Faktoren der Geschichte. So z.B. CARLYLE, der die »Heroen« aufs höchste wertet (Heros and Hero Worship 1841). Der extreme Collectivismus wiederum betrachtet das Individuum als passives Glied der Gesellschaft, als Produkt der »Umwelt«, des »Milieu«. So besonders L. GUMPLOVICZ (Gr. d. Sociol. 1885; Der Rassenkampf 1883). Eine vermittelnde Richtung betont die Notwendigkeit des Zusammenwirkens der Individuen, der großen Persönlichkeiten und der Masse, des Milieu (z.B. EUCKEN, Kampf u. ein. geist. Lebensinh. S. 278 f.). So bemerkt WUNDT: »Überall wird der einzelne getragen von dem Gesamtgeiste, an dem er mit all seinem Vorstellen, Fühlen und Wollen teilnimmt. In den führenden Geistern aber... verdichtet sich der gesamte Prozess der zurückgelegten Entwicklung, um Wirkungen zu erzeugen, die nun dem Gesamtgeist neue Bahnen anweisen« (Eth.2, S. 491, 458 ff.). Das isolierte Individuum hat nie existiert (l.c. S. 453). - Am Milieu (s. d.) schafft das große Individuum selbst (LINDNER, Geschichtsphilos. S. 55). Die große Persönlichkeit sieht mehr, urteilt richtiger, fühlt tiefer, will kräftiger, ist origineller, idealistischer als die Masse (P. BARTH, Philos. d. Gesch. I, 222; GOLDFRIEDRICH, Ideelehre S. 523 ff.). Vgl. Ding, Gesamtgeist, Individuation, Vielheit, Persönlichkeit.


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