Evolution

 

Evolution: Entwicklung von niederen, einfacheren zu höheren, komplizierteren, vollkommener angepaßten Seins- und Lebensformen. Es gibt eine physische und eine psychische (geistige), ferner eine ethische, soziale, sprachliche, philosophische, religiöse Entwicklung. Die biologische Entwicklung beruht auf inneren und äußeren Faktoren; zu den ersteren gehören: Organbetätigung, Übung, Willensintentionen aller Art, Vererbung allmählich erworbener und eingewurzelter Eigenschaften, zu den äußeren: Wechsel der Lebensbedingungen, Kampf ums Dasein und Auslese. Die Auffassung der Dinge unter dem Gesichtspunkte der Entwicklung heißt Evolutionismus. Die biologische Entwicklungstheorie überhaupt heißt Deszendenztheorie (Transmutationshypothese), die in verschiedenen Formen (Lamarckismus, Darwinismus u. a.) auftritt. - »Evolutio« kommt bei NICOLAUS CUSANUS vor, im mathematischen Sinne (»Linea est puncti evolutio«). »Auswickelung« findet sich bei J. BÖHME, »evolution« und »involution« (im psychischen Sinne) bei LEIBNIZ.

Der Entwicklungsgedanke, dem in letzter Linie das Postulat der Kontinuität des Geschehens zugrunde liegt, ist sehr alt, wenn es auch zu einer Entwicklungstheorie erst spät kommt. Im »ewigen Werden« des HERAKLIT ist der Entwicklungsgedanke schon enthalten. Aus Feuer wird Wasser, aus diesem Erde, dann wird alles wieder Feuer u.s.w. in infinitum (Diog. L. IX, 9). Der Kampf ist der treibende Faktor der Entwicklung polemos patêr pantôn Fragm. Mull. I, 44, 62). Nach EMPEDOKLES traten durch Urzeugung erst die Pflanzen, dann die Tiere auf, und zwar so, daß sie stückweise entstanden (Tiere mit Augen allein, Armen allein u. dgl.). Viele Mißbildungen entstanden durch zufällige Vereinigungen; diese gingen zu Grunde, während die lebensfähigen Formen sich erhielten und fortpflanzten (Plut., Plac. V, 19, 26; Aristot., De coel. III 2, 300b 28; Simplic. Comm. zu De coel. 587 Heib.). Nach DEMOKRIT und ANAXAGORAS entstanden die Organismen aus Schlamm (Diog. L. II, 9); so auch nach ARISTOTELES. Nach ANAXIMANDER ist der Mensch aus einer Tierart entstanden ex alloeidôn zôôn ho anthrôpos egennêthê Plut., vgl. Euseb., Praep. ev. I, 8, 2). Landtiere und Menschen gingen aus dem Wasser hervor (wo sie fischartig lebten), indem sie sich den neuen Lebensbedingungen anpaßten en ichthysin engenesthai to prôton anthrôpous - kai praphentas - kai genomenous hikanous eautois boêthein ekblêthênai tênikauta kai gês labesthai Plut., Quaest. symp. VIII, 1, 4; Plac. V, 19, 4). SPEUSIPP betrachtet das Gute, Vollkommene als Höhepunkt der Entwicklung to kalliston kai ariston mê en archê einai Arist., Met. XII 7, 1072 b 32). Eine beständige Weltentwicklung lehren die Stoiker. Von den Neuplatonikern und den von ihnen beeinflußten Philosophen (PLOTIN, DIONYSIUS AREOPAGITA, SCOTUS ERIUGENA, ECKHART, NICOLAUS CUSANUS, G. BRUNO, J. BÖHME u. a.) wird eine Emanation (s. d.) gelehrt. - Betreffs LUCREZ' s. Selection. SWAMMERDAM, LEEUVENHOEK, MALPHINGI stellen eine »Präformationstheorie« (e. d.) für die individuelle Entwicklung auf (Ovulisten, Animalculisten). Dagegen lehrt C. F. WOLF die » Epigenese« (s. Präform.). Er erklärt: »Evolutio phaenomenon est, quod, si essentiam eius et attributa species, omni quidem tempore, at inconspicuum, existit, denique vero, speciem prae se ferens, si nunc demum oriatur, quomodocunque conspicuum redditur« (Theor. gener. § 50). Den Begriff der psychischen Entwicklung (von inneren Zuständen der Monaden (s. d.) führt LEIBNIZ ein (Monadol. 11, 22). Überall gibt es Entwicklung und Einwicklung. »Il semble qu'il n'y a ni generation ni mort à la rigurur, mais seulement des développements, augmentations ou diminuations des animaux déjà formés« (Gerh. IV, 474; Monad. 73; Theod. § 30; Princ. de la nat. § 6). Eine stufenmäßige Entwicklung nimmt ROBINET an; auch LESSING und HERDER machen sich den Entwicklungsgedanken zu eigen als historische, culturliche Evolution.

KANT nimmt eine Entwicklung der Erde und des Sonnensystems aus einem Glasballe an (Allg. Naturgesch. u. Theor. d. Himm. 1755; ähnlich LAPLACE, Exposition du système du monde 1796). Kant erklärt ferner, die Analogie der Lebensformen verstärke »die Vermutung einer wirklichen Verwandtschaft derselben in der Erzeugung von einer gemeinschaftlichen Urmutter, durch die stufenartige Annäherung einer Tiergattung zur andern, von derjenigen an, in welcher das Prinzip der Zwecke am meisten bewährt zu sein scheint, nämlich dem Menschen, bis zum Polyp, von diesem sogar zu Moosen und Flechten, und endlich zu der niedrigsten uns merklichen Stufe der Natur, zur rohen Materie: aus welcher und ihren Kräften nach mechanischen Gesetzen... die ganze Technik der Natur, die uns in organisierten Wesen so unbegreiflich ist, daß wir uns dazu ein anderes Prinzip zu denken genötigt glauben, abzustammen scheint« (Krit. d. Urt. § 80). Man kann hypothetisch »den Mutterschoß der Erde, die eben aus ihrem chaotischen Zustande herausging (gleichsam als ein großes Tier), anfänglich Geschöpfe von minder zweckmäßiger Form, diese wiederum andere, welche angemessener ihrem Zeugungsplatze und ihrem Verhältnisse untereinander sich ausbildeten, gebären lassen« (ib.). GOETHE lehrt eine »Metamorphose«, bedingt durch den »Bildungstrieb« und äußere Einflüsse (WW. Hempel II, 230). »Alles, was entsteht, sucht sich Raum und will Dauer; deswegen verdrängt es anderes von seinem Platz und verkürzt seine Dauer« (WW. XIX, 212; XXXIII, 121). Den höheren Typen liegt ein »Urbild« zugrunde (l.c. XXX, 261). ERASMUS DARWIN erklärt: »Wenn wir die große Ähnlichkeit des Baues bedenken, welche bei allen warmblütigen Tieren schon in die Augen fällt..., so kann man sich des Schlusses nicht enthalten, daß sie alle auf ähnliche Art aus einem einzigen lebenden Filamente entstanden sind.« »Von diesem ersten Rudimente bis zum Ende ihres Lebens erleiden alle Tiere eine beständige Umbildung.« »Sollte es wohl zu kühn sein, sich da vorzustellen, daß alle warmblütigen Tiere aus einem einzigen Filamente entstanden sind, welches die erste große Ursache mit Animalität begabte, mit der Kraft, neue Teile zu erlangen, begleitet mit neuen Neigungen, geleitet durch Reizungen, Empfindung, Willen, und Assoziationen, und welches so die Macht besaß, durch seine ihm eingepflanzte Tätigkeit sich zu vervollkommnen, diese Vervollkommnung durch Zeugung der Nachwelt zu Überliefern« (Zoonom. sct. XXXIX, 4, 8). Die veränderten Lebensbedingungen wirkten anpassend auf die Lebewesen (Templ. of nat.). Infolge der »Überproduction« an Lebewesen herrscht ein Kampf um die Existenz (Zoonom. XXXIX, 4 u. Templ. of nat.). LAMARCK nimmt an, daß die höheren aus niederen Arten abstammen. Die Ursachen der Transformation sind: directe Wirkung der äußeren Lebensbedingungen, Kreuzung, besonders aber Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe, welche durch Übung verändert werden (Philos. zool. 1809). G. ST. - HILAIRE erklärt die Umwandlung der Arten aus dem Einflusse der Umgebung, dem »monde ambiant«.

Eine Entwicklung der Lebewesen lehrt in spekulativer Weise die Naturphilosophie der SCHELLINGschen Schule, besonders L. OKEN und STEFFENS. SCHELLING selbst erklärt: »Der gemeine Weltprozess beruht auf einem fortschreitenden... Sieg des subjektiven über das Objektive« (WW. I 10, 231). Eine dialektische (s. d.), logische »Entwicklung« lehrt HEGEL. Alles Endliche ist nur ein Moment (B. d.) im dialektischen Prozesse der Begriffsevolution des Absoluten. Vom »An-sich« durch das »Anderssein« zum »Für-sich« und »An-und-für-sich« entwickelt sich der Geist (Encykl. § 442). Das Treibende in allem ist der »Widerspruch« (s. d.), von einer Entstehung einer Form aus einer andern ist nicht die Rede, das wäre eine »nebulose Vorstellung« ( Encykl. 249). »Die Natur ist als ein System von Stufen zu betrachten, deren eine aus der anderen notwendig hervorgeht und die nächste Wahrheit derjenigen ist, aus welcher sie resultiert; aber nicht so, daß die eine aus der andern natürlich erzeugt wurde, sondern in der innern, den Grund der Natur ausmachenden Idee. Die Metamorphose kommt nur dem Begriff als solchem zu, da dessen Verminderung allein Entwicklung ist« (Naturphil. S. 32 f.). »Die Entwicklung des Begriffs... ist zu fassen als ein Setzen dessen, was er an sich ist,« als Äußerung, Heraustreten, Außer-sich-kommen, zugleich aber als »In-sich-gehen ins Zentrum« (l.c. S. 39). Auch SCHOPENHAUER sieht im Absoluten (Willen, s. d.) den Quell aller Entwicklung. Auf das Kommen und Gehen der Vorstellungen im Bewußtsein wendet HERBART den Begriff der Evolution und Involution (s. d.) an (Psychol. II, § 136; vgl. VOLKMANN, Lehrb. d. Psychol. I4, 460).

CUVIER (später AGASSIZ) nimmt Schöpfungskreise, niedere und höhere Typen der Organismen an; er vertritt geologisch die »Katastrophentheorie«.

Diese ersetzt CH. LYELL durch die Kontinuitätstheorie, durch die Annahme einer ruhigen, stetigen Entwicklung der Erde. Heute macht man der Katastrophentheorie wieder einige Zugeständnisse.

 


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