Aktualitätstheorie

Aktualitätstheorie: a. metaphysische = die Lehre, daß die Wirklichkeit nicht in einem (ruhenden) Sein, sondern in Wirksamkeit (actus), (lebendigem, schöpferischem) Tun, in einem Werden, in stetiger Entwicklung und Selbstverwirklichung besteht; b. psychologisch = die Ansicht, daß das Psychische im Bewußtsein selbst besteht, real ist, die Auffassung des Bewußtseins (der Seele) als Geschehen, Tätigkeit, Prozess. Gegensatz: Substantialitätstheorie (s. Seele).

Der Begründer der metaphysischen Aktualitätstheorie ist HERAKLIT mit seiner Lehre vom ewigen Werden (s. d.) ohne ruhendes Sein. Auf ein geistiges Schaffen, Produzieren führt PLOTIN das Sein zurück (Enn. VI, 8, 20). J. G. FICHTE nimmt als das Ursprüngliche das unendliche Tun des absoluten Ich (s. d.) an, welches das Sein erst setzt. Nach HEGEL ist die »Idee« (s. d.) als Weltgrund absoluter Prozeß, dialektische Entwicklung. Nach HEINROTH ist die Kraft (s. d.) das Primäre, die Substanz ein Abgeleitetes. »Es ist daher nur ein Schein, eine Täuschung, die uns außer der Kraft noch ein von ihr verschiedenes Substrat, als Bedingung ihrer Wirklichkeit, annehmen läßt« (Psychol. S. 273). SCHOPENHAUER bestimmt das Sein als Product der Willenstätigkeit (s. d.). Nach WUNDT sind die Wirklichkeitsfaktoren Willenseinheiten, aber nicht als tätige Substanzen, sondern als »substanzerzeugende Tätigkeiten« (Syst. d. Phil.2, S. 419 ff.). Es gilt der Satz: »so viel Aktualität, so viel Realität« (Eth.2, S. 459). Die Verbindungen der Willenseinheiten zu einem Gesamtwillen sind daher ebenso real, ja, viel wirkungsvoller, realer als sie selbst. Die aktuelle Willenseinheit ist »nur das letzte Glied in einer unendlichen Reihe vorauszusetzender Tätigkeiten, die alle bloß in der ihnen zukommenden Verbindung Wirklichkeit haben und deren Wechselbestimmungen daher in diesem Sinne realer sind als sie selber« (l.c. S. 422 ff.).

Die psychologische Aktualitätstheorie geht eigentlich schon auf PROTAGORAS zurück, der gesagt haben soll, die Seele sei nicht para tas aisthêseis (Diog. L. IX, 51). Bei ARISTOTELES kommt sie insofern vor, als er die Seele (s. d.) als Entelechie (s. d.) bestimmt. Nach SPINOZA ist die Seele keine Substanz. sondern die aus Teilideen zusammengesetzte »idea corporis« (Eth. II, prop. XV). HUME faßt die Seele geradezu als »Bündel« von Bewußtseinsinhalten ohne substantiellen Träger auf. Es gibt keine Seele außer dem aktuellen Bewußtsein (Treat. IV, sct. 5, sct. 6). Als Tätigkeit gilt die Seele bei J. G. FICHTE (»die Intelligenz ist dem Idealismus ein Tun und absolut nichts weiter; nicht einmal ein Tätiges soll man sie nennen« WW. I, 1, S. 440), SCHELLING, HEGEL (der Geist ist »absolute Aktualität«, Encykl. § 34), SCHOPENHAUER, als Kraft bei HEINROTH (Psychol. S. 270 ff.). FECHNER erklärt ausdrücklich: »Im Bewußtsein gibt es... einen steten Fluß, Wechsel, ewige Veränderung dessen, was darin erscheint... wohl aber beharrliche Verhältnisse, feste Gesetze.« »Was fest in sich ist, braucht nicht auf Festes aufgeklebt zu werden« (Üb. d. Seel. S. 205). Ähnlich PAULSEN: »Soll ein ›Träger‹ für das Seelenleben gefunden werden, so muß man ihn nicht in einem isolierten, starren Wirklichkeitsklötzchen suchen, das man›absolut setzt‹, sondern in dem umfassenden Ganzen, aus dem, an dem und in dem es ist« (Einl. in d. Phil. 2, S. 136). WUNDT versteht unter der Aktualitätstheorie die Tatsache, »daß jeder psychische Inhalt ein Vorgang (actus) ist«, daß das Psychische Ereignis, Geschehen und nicht ruhendes Sein, sowie daß es unmittelbare Wirklichkeit, nicht Erscheinung ist (Phil. Stud. X, 101; XII, 42, 81 f.). Das geistige Leben ist »nicht eine Verbindung unveränderter Objekte und wechselnder Zustande, sondern in allen seinen Bestandteilen Ereignis, nicht ruhendes Sein, sondern Tätigkeit, nicht Stillstand, sondern Entwicklung« (Vorles.2, S. 495; Ess. 4, S. 115). Das Psychische ist als »ein fortwährend wechselndes Geschehen in der Zeit, nicht als eine Summe beharrender Objekte, wie dies meist der Intellectualismus infolge jener falschen Übertragung der von uns vorausgesetzten Eigenschaften der äußeren Gegenstände auf die Vorstellungen derselben annimmt« (Gr. d. Psych.5, S. 17 f.). Die innere Erfahrung ist »ein Zusammenhang von Vorgängen«, sie besteht aus »Prozessen« (l.c. S. 18 f.). Von diesem Standpunkte aus erklärt sieh auch das Verhältnis von Seele und Leib (l.c. S. 388). Als »reines substratloses Geschehen« bestimmt auch JERUSALEM das Psychische (Urteilsf. S. 7; Lehrb. d. Psych.3, S. 3). Den Aktualitätsstandpunkt (mindestens im Sinne des Erlebnischarakters des Psychischen) vertreten ferner: VON HARTMANN (Phil. d. Unb.3, S. 401), aber nur für das Bewußtsein, hinter dem doch noch ein »funktionierendes Subjekt, das als Substanz zu bezeichnen ist«, steht (Krit. Wander. S. 95), H. SPENCER (auch nur empirisch, Psych. § 469), A. SPIR (Viertelj. f. w. Ph. IV, 370), HÖFFDIG, SULLY, JAMES, BALDWIN, LADD, VILLA, REHMKE, RIEHL, JODL, WAHLE u. a. Die Theorie (Seele = Tätigkeit) wird bekämpft von VOLKMANN (Lehrb. d. Psych. I4, S. 62), A. VANNÉRUS u. a. Vgl. Seele.


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