Axiom

Axiom (axiôma = dignitas): Grundsatz, Grundlage aller Beweise auf einem Gebiete, ursprünglicher, unbeweisbarer Satz, Grundurteil. Die speziellen Axiome gründen sich auf allgemeine Grundsätze der Anschauung und des Denkens, die insofern a priori (s. d.) sind, als ohne sie Erfahrung im Sinne wissenschaftlicher Erkenntnis nicht möglich ist, wenn auch die Bedeutung der Axiome erst in und an der Erfahrung bewußt wird. Es sind zu unterscheiden: mathematische, physikalische, logische Axiome (= Denkgesetze, s. d.). Der Begriff des Axioms ist bei PLATO schon insofern vorhanden, als dieser in reinen, dem Denken entstammenden Grundsätzen, Grundurteilen die Quelle aller Erkenntnis erblickt. Von dem relativen Grundsatze (hypothesis) muß zu einem »zulänglichen«, »ersten« Satz (archê) zurückgegangen werden (Phaedo 107 B, 101 E), zum voraussetzungslosen Prinzip (ep' archên anypotheton, Rep. 510 B). Bei ARISTOTELES bedeutet axiôma einen des Beweises nicht bedürftigen, die Grundlage eines Beweises bildenden Satz (Met. IV 3, 1005 a 20; Physik VIII 8, 252 a 24), auch einen praktischen Grundsatz (Eth. Nic. IV 7, 1123 b 21). Die Stoiker verstehen unter axiôma einen durch sich selbst klaren Satz (ho estin alêthes ê pseudos ê pragma autoteles apophanton hoson eph' heautô,, Diog. L. VII, 1, 48). Nach BOËTHIUS ist Axiom (dignitas) eine »propositio per se nota, quam quisque probat auditam« (bei ALBERTUS MAGNUS, Sum. th. I, qu. 17). Den Scholastikern gelten die Axiome als uns angeborene (s. d.) »ewige Wahrheiten« (s. d.).

In der neueren Philosophie stehen einander zwei Auffassungen der Axiome gegenüber: die rationalistische und die empiristische, ferner die aprioristische nebst Vermittelungen.

Rationalistisch lehrt DESCARTES die Vernunftnotwendigkeit der Axiome. »Cum... agnoscimus fieri non posse, ut ex nihilo aliquid fiat, tunc propositio haec, ex nihilo nihil fit, non tanquam res aliqua existens, neque etiam ut rei modus consideratur: sed ut veritas aeterna, quae in mente nostra sedem habet, vocaturque communis notio, sive axioma. Cuius generis sunt: impossibile est idem simul esse et non esse; quod factum est, infectum esse nequit; is qui cogitat, non potest non existere dum cogitat« (Princ. phil. I, 49). Nach GALILEI haben die Axiome ursprüngliche Evidenz, sie sind »da per se«. F. BACON unterscheidet zwei Methoden, zu den Axiomen zu gelangen und diese zu gebrauchen. »Altera a sensu et particularibus advolat ad axiomata maxime generalia, atque ex iis principiis corumque immota veritate iudicat et invenit axiomata media: atque haec via in usu est. Altera a sensu et particularibus excitat axiomata, ascendendo continenter et gradatim, ut ultimo loco perveniatur ad maxime generalia; quae via vera est, sed intentata« (Nov. Org. I, 19). Nach LOCKE gehören zu den Axiomen alle aus unmittelbarer Erfahrung entspringenden Sätze, wie der Satz der Identität u. dgl. Sie beruhen auf der unterscheidend-vergleichenden Funktion der Seele, ihre Klarheit auf der Festigkeit, die sie im Bewußtsein erlangen (Ess. IV, C. 7, § 1 ff.).

LEIBNIZ betrachtet die Axiome als »angeboren« (s. d.) in dem Sinne, daß sie, potentiell, im Bewußtsein angelegt sind und daß man sie im Denken finden kann, ohne von der Erfahrung auszugehen (Nouv. Ess. I, ch. 1, § 5). Chr. WOLF definiert »Axiom« als »propositio theoretica indemonstrabilis« (Log. § 267). HUME betont, daß die Axiome durch das reine Denken entdeckt werden können, ohne von irgend einem empirischen Dasein abhängig zu sein (Inqu. IV, 1). Nach REID sind die Axiome oder Prinzipien durch Intuition bewußt werdende ursprüngliche Wahrheiten (»self-evident truths«), sie sind von strenger Notwendigkeit und Allgemeinheit (Ess. on the pow. II, 270 ff.); das Gegenteil derselben ist unmöglich. Die Erfahrung lehrt uns nur, was ist, nicht das Notwendigsein (»experience informs us only of what is, or has been, not of what must be«, l.c. p. 281; I, 40 ff.).

KANT begründet die Notwendigkeit der Axiome aus der Apriorität (s. d.) der Anschauungs- und Denkformen. Geometrische Sätze sind apodiktisch, daher können sie »nicht empirische oder Erfahrungsurteile sein, noch aus ihnen geschlossen werden« (Kr. d. r. V. S. 52, 54). Diese und die arithmetischen Axiome »können aus der Erfahrung nicht gezogen werden, denn diese würde weder strenge Allgemeinheit noch apodiktische Gewißheit geben. Wir würden nur sagen können: so lehrt es die gemeine Wahrnehmung, nicht aber: so muß es sich verhalten. Diese Grundsätze gelten als Regeln, unter denen überhaupt Erfahrungen möglich sind, und belehren uns vor denselben und nicht durch dieselben« (l.c. S. 58; Proleg. § 10 ff.). Aus dem Gebrauch der Kategorien (s. d.) entspringen apriorische Grundsätze, durch die allein Sicherheit und Objektivität in aller Naturerkenntnis möglich ist. Diese Grundsätze sind ursprünglicher Art, »nicht in höheren und allgemeineren Erkenntnissen gegründet« (Kr. d. r. V. S. 149). Die Quelle aller Grundsätze ist der reine Verstand, »nach welchem alles (was uns nur als Gegenstand vorkommen kann) notwendig unter Regeln steht, weil ohne solche den Erscheinungen niemals Erkenntnis eines ihnen korrespondierenden Gegenstandes zukommen könnte« (l.c. S. 156). Die Grundsätze sind die obersten Regeln, Bedingungen der synthetischen Urteile, sie sind »zugleich allgemeine Gesetze der Natur, welche a priori erkannt werden können«, da sie sich auf mögliche Erfahrung beziehen, sie machen erst ein »Natursystem« aus (Proleg. § 23, 26). Die Grundsätze zerfallen in mathematische und dynamische; erstere gehen nur auf die Anschauung, letztere auf das Dasein einer Erscheinung überhaupt, erstere sind unmittelbar, letztere nur mittelbar evident. Die mathematischen Grundsätze gliedern sich in Axiome der Anschauung und Antizipationen der Wahrnehmung (s. d.); die dynamischen Grundsätze gliedern sich in die Analogien der Erfahrung (s. d.) und die Postulate des empirischen Denkens (s. d.; Kr. d. r. Vern. S. 172 ff.). Axiome der Anschauung sind die Grundsätze, worauf sich die Möglichkeit und objektive Gültigkeit der Mathematik a priori gründet. Das Prinzip dieser Axiome lautet: »Alle Erscheinungen sind ihrer Anschauung nach extensive Größen« (l.c. S. 159).

Im Sinne des Kritizismus lehrt BECK. Nach ihm beruht die Notwendigkeit der Axiome auf den Eigenschaften von Raum und Zeit, sich in der Konstruktion, d.h. durch die Zurückführung der Sätze auf die apriorischen Verknüpfungen der Anschauung, darstellen zu lassen (Erl. Ausz. III, 188). Nach FRIES beruht diese Notwendigkeit auf der dauernden Tätigkeit der Vernunft (Neue Krit. II, 43). Sie werden demonstriert dadurch, »daß wir die Anschauung nachweisen, die in ihnen nur wieder ausgesprochen wird« (Syst. d. Log. S. 411). Grundsätze sind die »höchsten Prinzipien der Systeme von Urteilen« (l.c. S. 292). SCHOPENHAUER betont, die Wahrheit der mathematischen Axiome leuchte nur mittelst der Anschauung und Konstruktion ein (Vierf. Wurz. C. 6, § 39). WINDELBAND erklärt, für die genetische Methode seien die Axiome »tatsächliche Auffassungsweisen, welche sich in der Entwicklung der menschlichen Vorstellungen, Gefühle und Willensentscheidungen gebildet haben und darin zur Geltung gekommen sind«, für die kritische Methode aber sei es »ganz und gar gleichgültig, wie weit ihre tatsächliche Anerkennung reicht«, sie sind »Normen, welche unter der Voraussetzung gelten sollen, daß das Denken den Zweck, wahr zu sein, das Wollen den Zweck, gut zu sein, das Fühlen den Zweck, Schönheit zu erfassen, in allgemein anzuerkennender Weise erfüllen will« (Prälud. S. 257).

Als Hauptvertreter der empiristischen Auffassung der Axiome ist J. ST. MILL zu nennen, für ihn sind sie experimentale Wahrheiten, Generalisationen aus der Beobachtung (Logik II, C. 6, § 1), durch Induktion (s. d.) gewonnen, freilich unter der Voraussetzung der Gleichmäßigkeit des Naturgeschehens (Logik I, 277 ff.). Nach HELMHOLTZ wiederum sind die Axiome Produkte »unbewußter, aus der Summe von Erfahrungen als Obersätzen entspringender Schlüsse« (Tats. d. Wahrn. S. 28). Sie sind durch Erfahrung gewonnen und bestätigt (Vortr. u. Red. II4, 30 f., 230 ff.). »Die geometrischen Axiome sprechen... nicht über Verhältnisse des Raumes allein, sondern gleichzeitig auch über das mechanische Verhalten unserer festesten Körper bei Bewegungen« (l.c. S. 30). Empiristen sind B. ERDMANN (Axiome d. Geometrie S. 91 ff.), RIEMANN (WW. S. 475 f.), OSTWALD (Vorles. üb. Naturph.2, S. 305 f.). Auch ÜBERWEG betont den empirischen, abstraktiven Ursprung der Axiome (Syst. d. Logik, S. 69 ff.). Nach CZOLBE sind die Axiome »Abstraktionen aus sinnlich wahrnehmbaren, das Element der Bewegung enthaltenden Kausalverhältnissen« (Gr. u. Urspr. d. m. Erk. S. 66, 98 f., 100). Nach LAAS bekundet sich in den Axiomen der Mathematik die Uniformität der Anschauungsformen, und diese besagt, daß wir keinen Grund haben, »von den Formen der Anschauung jemals andere Gesetze zu erwarten als diejenigen, die wir beständig an ihnen konstatieren« (Id. u. pos. Erk. S. 447). - Schon JACOBI erklärt die Notwendigkeit der Axiome aus dem Vorkommen der Anschauungsformen in aller Erfahrung (WW. II, 213 f.).

Teils rationalistisch, teils wenigstens den logischen, ursprünglichen Faktor in den Axiomen würdigend und dem Kritizismus in manchem nahekommend lehren: BARDILI. Er begründet die Apodikticität der Axiome aus dem Vorhandensein des Denkens in ihnen (Gr. d. erst. Logik S. 82 ff.). Nach MAIMON sind die mathematischen Axiome nicht a priori, da sie der Erkenntnis des Gegenstandes nicht vorhergehen (Vers. üb. d. Tr. S. 169); ihre Notwendigkeit ist keine absolute, objektive, sondern bloß subjektiv (l.c. S. 173). Nach TRENDELENBURG sind die mathematischen und physikalischen Axiome Produkte der Denkbewegung, die dem Geiste als dessen eigene Tat unmittelbar verständlich sind (Log. Unt. I2, 292). Nach LOTZE kommt den Axiomen Evidenz zu, die sie jedes Beweises enthebt (Logik S. 580). E. v. HARTMANN versteht unter der Apriorität der Axiome die Tatsache, daß in ihnen allgemeine logische Formen enthalten sind (Kr. Grundleg. S. 168). Ihre Notwendigkeit beruht darauf, daß sie nur für die formalen Verhältnisse eines an sich gleichgültigen Materials gelten, das sich jeder stets in derselben Weise reproduzieren kann (l.c. S. 167). WUNDT betont, daß apodiktische Sätze sich nicht aus Anschauungen sondern aus zwingenden Schlußfolgerungen ergeben (Log. I2, 486 f.). Die Notwendigkeit der geometrischen Sätze beruht nur auf deren ausnahmsloser Gültigkeit; die Axiome der Zeit »können nur aus der Erfahrung gezogen sein, weil sie, abgesehen von der Aufeinanderfolge unserer Vorstellungen, völlig gegenstandslos sind« (l.c. S. 482, 490 ff.). Die mathematischen Axiome sind Anwendungen des Satzes vom Grunde auf mathematische Grundbegriffe. A priori sind sie nur, sofern Zeit und Raum begrifflich unabhängig von jeder speziellen Erfahrung bestimmt werden können; insofern sie sich aber auf die Anschauungsformen selbst beziehen, haben sie den Charakter allgemeinster Erfahrungsgesetze. Sie haben ihre Quelle in der Induktion, beruhen auf ursprünglichen Induktionen, sind gleichzeitig Gesetze des Denkens und der Objekte des Denkens. Ihre Apodiktizität erklärt sich daraus, daß das Denken an den formalen Bestandteilen der Dinge am unmittelbarsten und einfachsten sich betätigt. Das »Prinzip der Konstanz mathematischer Gesetze« und das »Prinzip der Permanenz der mathematischen Operationen« bringen die Allgemeingültigkeit der mathematischen Begriffe zum Ausdruck (l.c. S. 387, II2, 1, S. 106, 114 ff.). RIEHL erklärt die Notwendigkeit der Axiome daraus, daß sich an der Anschauungsform die synthetische Gesetzmäßigkeit des Bewußtseins und seiner Identität (s. d.) am unmittelbarsten betätigt (Phil. Krit. II 1, S. 100). SCHUPPE sieht den Grund der Evidenz der mathematischen Axiome in deren Anschaulichkeit (Logik S. 89). Diese Evidenz beruht nach SCHUBERT-SOLDERN auf der »Undenkbarkeit des Gegenteils« (Gr. e. Erk. S. 310). SIGWART bestimmt die Axiome als »Sätze, deren Wahrheit und Gewißheit unmittelbar einleuchtend, deren Gegenteil zu denken darum unmöglich ist« (Logik I2, 412).


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