XIII.5. Wissenschaftliche Übungen der Griechen

 

 Ein ganz anderer war Aristoteles' Geist, der scharfsinnigste, festeste und trockenste vielleicht, der je den Griffel geführt. Seine Philosophie ist freilich mehr die Philosophie der Schule als des gemeinen Lebens, insonderheit in den Schriften, die wir von ihm haben, und nach der Weise, wie man sie gebrauchte; um so mehr aber hat die reine Vernunft und Wissenschaft durch ihn gewonnen, so daß er in ihrem Gebiet als ein Monarch der Zeiten dasteht. Daß die Scholastiker meistens nur auf seine Metaphysik verfielen, war ihre, nicht Aristoteles' Schuld, und doch hat sich auch an solcher die menschliche Vernunft unglaublich geschärft. Sie reichte barbarischen Nationen Werkzeuge in die Hände, die dunkeln Träume der Phantasie und Tradition zuerst in Spitzfündigkeiten zu verwandeln, bis sie sich damit allmählich selbst zerstörten. Seine bessern Schriften aber, die Naturgeschichte und Physik, die Ethik und Moral, die Politik, Poetik und Redekunst, erwarten noch manche glückliche Anwendung. Zu beklagen ist's, daß seine historischen Werke untergegangen sind und daß wir auch seine Naturgeschichte nur im Auszuge haben. Wer indessen den Griechen den Geist reiner Wissenschaft abspricht, möge ihren Aristoteles und Euklides lesen: Schriftsteller, die in ihrer Art nie übertroffen wurden; denn auch das war Platons und Aristoteles' Verdienst, daß sie den Geist der Naturwissenschaft und Mathematik erweckten, der über alles Moralisieren hinaus ins Große geht und für alle Zeiten wirkt. Mehrere Schüler derselben waren Beförderer der Astronomie, Botanik, Anatomie und anderer Wissenschaften wie denn Aristoteles selbst bloß mit seiner Naturgeschichte den Grund zu einem Gebäude gelegt hat, an welchem noch Jahrhunderte bauen werden. Zu allem Gewissen der Wissenschaft wie zu allem Schönen der Form ist in Griechenland der Grund gelegt worden; leider aber, daß uns das Schicksal von den Schriften seiner gründlichsten Weisen so wenig gegönnt hat! Was übriggeblieben ist, ist vortrefflich; das Vortrefflichste ging vielleicht unter.

 Man wird es nicht von mir erwarten, daß ich die einzelnen Wissenschaften der Mathematik, Medizin, Naturwissenschaft und aller schönen Künste durchgehe, um eine Reihe Namen zu nennen, die entweder als Erfinder oder als Vermehrer des Wissenschaftlichen derselben allen künftigen Zeiten zur Grundlage gedient haben. Allgemein ist's bekannt, daß Asien und Ägypten uns eigentlich keine wahre Form der Wissenschaft in irgendeiner Kunst oder Lehre gegeben; dem feinen, ordnenden Geist der Griechen haben wir diese allein zu danken. Da nun eine bestimmte Form der Erkenntnis eben das ist, was ihre Vermehrung oder Verbesserung in zukünftigen Zeiten bewirkt, so sind wir den Griechen die Basis beinah aller unserer Wissenschaften schuldig. Mögen sie sich fremde Ideen zugeeignet haben, soviel sie wollen, desto besser für uns; gnug, sie ordneten solche und strebten zur deutlichen Erkenntnis. Die mancherlei griechischen Schulen waren hierin das, was in ihrem Staatswesen die vielen Republiken waren: gemeinschaftlich strebende, miteinander wetteifernde Kräfte; denn ohne diese Verteilung Griechenlandes würde selbst in ihren Wissenschaften nie soviel geschehen sein, als geschehen ist. Die ionische, italische und atheniensische Schule waren, ihrer gemeinschaftlichen Sprache ohngeachtet, durch Länder und Meere voneinander gesondert; jede also konnte für sich selbst wurzeln und, wenn sie verpflanzt oder eingeimpft wurde, desto schönere Früchte tragen. Keiner der früheren Weisen wurde vom Staat, selbst nicht von seinen Schülern besoldet; er dachte für sich, er erfand aus Liebe zur Wissenschaft oder aus Liebe zum Ruhm. Die er unterrichtete, waren nicht Kinder, sondern Jünglinge oder Männer, oft Männer, die der wichtigsten Staatsgeschäfte pflegten. Für Jahrmärkte eines gelehrten Handels schrieb man damals noch nicht; man dachte aber desto länger und tiefer, zumal der mäßige Philosoph im schönen griechischen Klima ungehindert von Sorgen denken konnte, da er zu seinem Unterhalt wenig bedurfte.

 Indessen können wir nicht umhin, auch hier der Monarchie das Lob widerfahren zu lassen, das ihr gebührt. Keiner der sogenannten Freistaaten Griechenlands hätte dem Aristoteles zu seiner Naturgeschichte die Beihülfe verschafft, die ihm sein königlicher Schüler verschaffen konnte; noch minder hätten ohne die Anstalten der Ptolemäer Wissenschaften, die Muße oder Kosten fordern, z.B. Mathematik, Astronomie u. f., die Fortschritte getan, die sie in Alexandrien getan haben. Ihren Anlagen sind wir den Euklides, Eratosthenes, Apollonius Pergäus, Ptolemäus u. a. schuldig, Männer, die zu den Wissenschaften den Grund gelegt, auf welchen jetzt nicht nur das Gebäude der Gelehrsamkeit, sondern gewissermaße unserer ganzen Weltregierung ruht. Es hatte also auch seinen Nutzen, daß die Zeit der griechischen Rednerei und Bürgerphilosophie mit den Republiken zu Ende ging; diese hatte ihre Früchte getragen, dem menschlichen Geist aber waren aus griechischen Seelen noch andere Keime der Wissenschaft nötig. Gern verzeihen wir dem ägyptischen Alexandrien seine schlechteren Dichter228; es gab uns dafür gute Beobachter und Rechner. Dichter werden durch sich selbst; Beobachter können durch Fleiß und Übung allein vollkommen werden.

 Insonderheit hat die griechische Philosophie über drei Gegenstände vorgearbeitet, die schwerlich irgendwo anders eine so glückliche Werkstatt hätten finden mögen: sie sind Sprache, Kunst und Geschichte. Die Sprache der Griechen hatte sich durch Dichter, Redner und Philosophen so vielseitig reich und schön gebildet, daß das Werkzeug selbst in spätem Zeiten die Aufmerksamkeit der Betrachter an sich zog, da man es nicht mehr zu so glänzenden Zwecken des öffentlichen Lebens anwenden konnte. Daher die Kunst der Grammatiker, die zum Teil wirkliche Philosophen waren. Zwar hat uns den größesten Teil dieser Schriftsteller die Zeit geraubt, welchen Verlust wir auch allenfalls gegen viel wichtigere Sachen verschmerzen mögen, indessen ist ihre Wirkung deswegen nicht ausgetilgt worden; denn am Studium der griechischen hat sich das Studium der römischen Sprache und überhaupt alle Sprachenphilosophie der Erde angezündet. Auch in die morgenländischen Dialekte des vordem Asiens ist es nur aus ihr gekommen; denn die ebräische, arabische und andere Sprachen hat man nur durch die griechische in Regeln zu bringen gelernt. Gleichermaßen ist an eine Philosophie der Kunst nirgend als in Griechenland gedacht worden, weil durch einen glücklichen Trieb der Natur und durch eine geschmackvolle sichre Gewohnheit Dichter und Künstler selbst eine Philosophie des Schönen ausübten, ehe der Zergliedrer ihre Regeln aufnahm.

So mußte sich durch den ungeheuren Wetteifer in Epopeen, Theaterstücken und öffentlichen Reden notwendig mit der Zeit eine Kritik bilden, an welche unsere Kritik schwerlich reicht. Es sind uns zwar auch von ihr außer Aristoteles' Schriften nur wenige späte Bruchstücke übriggeblieben, die indes immer noch von dem überfeinen Scharfsinn der griechischen Kunstrichter zeugen. Die Philosophie der Geschichte endlich gehört vorzüglich nach Griechenland heim, weil eigentlich die Griechen allein Geschichte haben. Der Morgenländer hat Stammregister oder Märchen, der Nordländer hat Sagen, andere Nationen Lieder; der Grieche bildete aus Sagen, Liedern, Märchen und Stammregistern mit der Zeit den gesunden Körper einer Erzählung, die in allen Gliedern lebt. Auch hierin ging ihm seine alte Dichtkunst vor, da sich ein Märchen nicht leicht angenehmer erzählen läßt, als es die Epopee erzählte; die Verteilung der Gegenstände nach Rhapsodien gab zu ähnlichen Absätzen in der Geschichte Anlaß, und der lange Hexameter konnte bald den Wohlklang der historischen Prose bilden. Herodot wurde also Homers Nachfolger, und die späteren Geschichtschreiber der Republiken nahmen die Farbe derselben, den republikanischen Rednergeist, in ihre Erzählung auf. Da nun mit Thucydides und Xenophon die griechische Geschichte aus Athen ausging und die Beschreiber derselben Staatsmänner und Feldherren waren, so mußte ihre Geschichte pragmatisch werden, ohne daß sie ihr eine pragmatische Gestalt zu geben suchten. Die öffentlichen Reden, die Verflechtung der griechischen Angelegenheiten, die lebendige Gestalt der Sachen und ihrer Triebfedern gab ihnen solche Form an, und man kann kühn behaupten, daß ohne die Republiken Griechenlands keine pragmatische Geschichte in der Welt wäre. Je mehr späterhin die Staaten- und Kriegskunst sich entwickelte, desto künstlicher wurde auch der pragmatische Geist der Geschichte, bis endlich Polybius sie fast zur Kriegs- und Staatenwissenschaft selbst machte. An Vorbildern solcher Art hatten nun die spätem Betrachter zu ihren Anmerkungen reichen Stoff, und die Dionyse konnten sich in den Anfängen der historischen Kunst gewiß reichlicher üben, als ein Sineser, Jude oder selbst ein Römer es tun konnte.

 Da wir also die Griechen in jeder Übung des Geistes an dichterischen, rednerischen, philosophischen, wissenschaftlichen, historischen Werken so reich und glücklich finden, Schicksal der Zeiten, warum hast du uns denn so viel von ihnen versagt? Wo sind Homers Amazonia und seine Thebais und Iresione, seine Jamben, sein Margites? Wo sind die vielen verlernen Stücke Archilochus', Simonides', Alcäus', Pindars, die dreiundachtzig Trauerspiele Äschylus', die hundertundachtzehn des Sophokles und die unzähligen andern verlornen Stücke der Tragiker, Komiker, Lyriker, der größesten Weltweisen, der unentbehrlichsten Geschichtschreiber, der merkwürdigsten Mathematiker, Physiker u. f.? Für eine Schrift des Demokritus, Aristoteles, Theophrasts, Polybius, Euklides, für ein Trauerspiel des Äschylus, Sophokles und so vieler andern, für ein Lustspiel Aristophanes', Philemons, Menanders, für eine Ode des Alcäus oder der Sappho, für die verlerne Natur- und Staatengeschichte Aristoteles' oder für die fünfunddreißig Bücher Polybius': wer würde nicht gern einen Berg von neuern Schriften, seine eignen zuerst, hingeben, daß die Bäder von Alexandrien ein ganzes Jahr lang davon erwärmt würden? Aber das Schicksal mit eisernem Fuß geht einen andern Gang fort, als daß es auf die Unsterblichkeit einzelner menschlicher Werke in Wissenschaft oder in Kunst rechne. Die gewaltigen Propyläen Athens, alle Tempel der Götter, jene prächtigen Paläste, Mauern, Kolossen, Bildsäulen, Sitze, Wasserleitungen, Straßen, Altäre, die das Altertum für die Ewigkeit schuf, sind durch die Wut der Zerstörer dahin, und einige schwache Gedankenblätter des menschlichen Nachsinnens und Fleißes sollten verschont bleiben?

Vielmehr ist zu verwundern, daß wir derselben noch so viel haben, und vielleicht haben wir an ihnen noch zuviel, als daß wir sie alle gebraucht hätten, wie sie zu gebrauchen wären. Lasst uns jetzt zum Aufschluß dessen, was wir bisher einzeln durchgingen, die Geschichte Griechenlandes im ganzen betrachten; sie trägt ihre Philosophie Schritt vor Schritt belehrend mit sich.

 


 © textlog.de 2004 • 03.05.2025 02:15:21 •
Seite zuletzt aktualisiert: 26.10.2004 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright