Genie und Zufall.
Descartes, Böhme


Noch einer letzten Gruppe genialer Menschen müssen wir hier gedenken, denen gegenüber man fast zu der Annahme verleitet werden könnte, daß ein glücklicher Zufall sie zu dem gemacht hat, was sie geworden. Alles was bei Anderen in Form sich wiederholender Eingebungen, Stimmungen, Anregungen, Inspirationen über das ganze Leben wie ein Auf- und Abgehen gleichmäßig bewegter Wellen verteilt ist, erscheint bei ihnen als ein plötzlicher seelischer Stoß von unerhörter Gewalt, dessen Nachzittern das Gemüt nicht mehr zur Ruhe kommen läßt; ein einziger Moment von fast hellsehender Kraft entscheidet für die ganze Lebenszeit; und ein seelischer Prozeß, der vielleicht in weniger als einer halben Stunde abspielt, bringt Lösung und Arbeitsplan für ein halbes Säkulum. Das merkwürdigste Beispiel nach dieser Richtung ist wohl Descartes. Descartes, der zwei Jahre absolutester Einsamkeit in einer Pariser Vorstadt mit vergeblichen philosophischen Grübeleien ausgefüllt hatte, tritt plötzlich, mit der Erwägung, daß man die Lösung der großen Weltfragen draußen unter den Menschen suchen müsse, heraus, und nimmt, wie das damals während des 30jährigen Krieges üblich, Kriegsdienste in der bayerischen Armee. Und hier, im Kriegslager zu Neuburg an der Donau, macht der junge Franzose den großen Fund, — er nennt den 10. November 1619 — jene eigentümliche Verbindung von Philosophie und Mathematik, jene eigentümliche Methode philosophische Sätze geometrisch zu fassen, die ihm im Übermaß seines Zweifels als die einzige Rettung zu einer exakten, philosophischen Forschung erschienen war und die von nun an das unverrückbare Ziel seines Lebens bildet. (Erdmann, Gesch. d. Philos. Band II pag 8 ff.) Bedenken Sie, Descartes, ein Mann der an der Spitze unserer gesammten modernen Philosophie steht, Descartes, der als erster es unternimmt, nicht die Außenwelt und ihre Beziehungen zu unserem Denken, sondern das denkende Ich auf seine Funktion hin zu prüfen, eine Art Denk-Mechanik zu liefern, ein Weg, auf dem wir heute noch wandeln, Descartes, ohne den Spinoza und in weiterer Folge Kant, und was sich an ihn anschließt, undenkbar, findet das treffliche Werkzeug seiner Methode in einem bayerischen Kriegslager, und läßt diesen Fund für sein ganzes Leben lang nicht mehr los! Und Descartes war doch kein Phantast, sondern ein fast rein mathematischer Kopf. Weit eher begreifen wir ein ähnliches Ereignis bei Jakob Böhme, der zum erstenmale beim Betrachten eines von der Sonne beleuchteten Zinngeschirres auf jene Gedanken gekommen sein will, die er zwei Jahre später in seiner »Aurora«, seinem entscheidenden Werk, zum Ausdruck brachte. Gewiß ist das Zinngeschirr, als solches, von ganz nebensächlicher Bedeutung für den geistigen Gährungs-Prozeß im Kopfe eines Jakob Böhme; aber was es uns lehrt, ist die Plötzlichkeit, mit der in einem genialen Kopfe alle die bunten Gedanken-Steine in einem gegebenen Moment zu einem glücklichen Mosaik zusammenschießen, ein Bild, welches dann den Betreffenden nicht mehr verläßt, und welches er freudestrahlend der Welt verkündet. — Und wer von Ihnen erinnert sich nicht bei dieser Gelegenheit jenes merkwürdigen Falles einer plötzlichen Seelenerschütterung eines bedeutenden Mannes, die wir unter dem Namen »Saul's Bekehrung« kennen. Ziehen wir all' das Legendäre, womit diese Episode zweifellos ausgeschmückt ist, ab, was bleibt übrig? Ein Mann, der in der Mitte seiner Jahre angelangt ist, von außerordentlicher Leidenschaftlichkeit, in fanatischer Verfolgung seines Lebenszieles, der Ausrottung der jung angesiedelten Christen-Gemeinden, macht plötzlich Halt, und betritt eben die Stadt, auf die ein Hauptschlag geplant war, als Freund der Verfolgten, deren leidenschaftlichster Vorkämpfer er nun wird. Was Paulus am Himmel gesehen hat, oder gesehen haben will, ist ganz gleich; ob es ein rein innerlicher Prozeß, ein seelischer Konflict, war; oder ob äußerliche Verhältnisse, Naturereignisse, ein heftiger Blitzschlag während eines Gewitters, wie bei Luther u. drgl. mitwirkten; nenne man es Inspiration, Vision oder Schrecken; historische Tatsache bleibt, daß ein Mann, dessen Geisteskräfte niemals in Zweifel gezogen wurden, und der durch sein kühnes Vordringen der jungen christlichen Kirche eine Angriffsfähigkeit verlieh, ohne die sie, wie Rénan glaubt, sicher untergegangen wäre, innerhalb weniger Stunden die heftigste innere Revolution durchmachte, und daß diese in seinem Willen entgegengesetzter, spontan und unerbittlich verlaufender seelischer Prozeß war. —

Aber diese plötzliche Erleuchtung, dieses Hereinbrechen eines fast überirdischen Einflußes, an dem die betreffenden wie an eine fremde Macht glauben, das Hinaushorchen des genialen Menschen auf die fremde Stimme, die ihm schon einmal das erlösende Wort zugeflüstert, das Angewiesen-Sein auf eine Konstellation des Geistes, die man nicht willkürlich herbeiführen kann, das Abwartenmüssen, ob auch diesmal die Seele das Bild, das Phantom hergeben wird das zur künstlerischen Begeisterung antrieb, dieser ganze Status, — erst langsames, dumpfes Hinbrüten, dann fiebernde Angst und Erregung, — bringt die Genies psychologisch in dichteste Nähe mit einer Klasse perverser Geistesmenschen, die man allgemein unter dem Namen Halluzinanten zusammenfaßt. Und damit kommen wir zum zweiten Teil unserer Erörterung, die Verwandtschaft des Genies zum Wahnsinn. —


 © textlog.de 2004 • 19.04.2024 21:32:50 •
Seite zuletzt aktualisiert: 06.09.2007 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright  Genie und Wahnsinn