3. Englische Industriezweige ohne legale Schranke der Exploitation

 

Man wird nach dem Vorhergehenden verstehn, daß der Kommissionsbericht die Bäckergesellen zu den kurzlebigen Arbeitern zählt, die, nachdem sie der unter allen Teilen der Arbeiterklasse normalen Kinderdezimation glücklich entwischt sind, selten das 42. Lebensjahr erreichen. Nichtsdestoweniger ist das Bäckergewerbe stets mit Kandidaten überfüllt. Die Zufuhrquellen dieser "Arbeitskräfte" für London sind Schottland, die westlichen Agrikulturdistrikte Englands und - Deutschland.

In den Jahren 1858-1860 organisierten die Bäckergesellen in Irland auf ihre eignen Kosten große Meetings zur Agitation gegen die Nacht- und Sonntagsarbeit. Das Publikum, z.B. auf dem Maimeeting zu Dublin, 1860, ergriff mit irischer Wärme Partei für sie. Ausschließliche Tagarbeit wurde durch diese Bewegung in der Tat erfolgreich durchgesetzt zu Wexford, Kilkenny, Clonmel, Waterford usw.

"Zu Limerick, wo die Qualen der Lohngesellen bekanntermaßen alles Maß überstiegen, scheiterte diese Bewegung an der Opposition der Bäckermeister, namentlich der Bäcker-Müller. Das Beispiel Limericks führte zum Rückschritt in Ennis und Tipperary. Zu Cork, wo der öffentliche Unwille sich in der lebhaftesten Form kundgab, vereitelten die Meister die Bewegung durch den Gebrauch ihrer Macht, die Gesellen an die Luft zu setzen. Zu Dublin leisteten die Meister den entschiedensten Widerstand und zwangen durch Verfolgung der Gesellen, die an der Spitze der Agitation standen, den Rest zu Nachgeben, zur Fügung in die Nacht- und Sonntagsarbeit."84)

Die Kommission der in Irland bis an die Zähne gewaffneten englischen Regierung remonstriert leichenbitterlich gegen die unerbittlichen Bäckermeister von Dublin, Limerick, Cork usw.:

"Das Komitee glaubt, daß die Arbeitsstunden durch Naturgesetze beschränkt sind, die nicht ungestraft verletzt werden. Indem die Meister durch die Drohung, sie fortzujagen, ihre Arbeiter zur Verletzung ihrer religiösen Überzeugung, zum Ungehorsam gegen das Landesgesetz und die Verachtung der öffentlichen Meinung zwingen" (dies letztre bezieht sich alles auf die Sonntagsarbeit), "setzen sie böses Blut zwischen Kapital und Arbeit und geben ein Beispiel, gefährlich für Religion, Moralität und öffentliche Ordnung ... Das Komitee glaubt, daß die Verlängrung des Arbeitstags über 12 Stunden ein usurpatorischer Eingriff in das häusliche und Privatleben des Arbeiters ist und zu unheilvollen moralischen Resultaten führt, durch Einmischung in die Häuslichkeit eines Mannes und die Erfüllung seiner Familienpflichten als Sohn, Bruder, Gatte und Vater. Arbeit über 12 Stunden hat die Tendenz, die Gesundheit des Arbeiters zu untergraben, führt zu vorzeitiger Alterung und frühem Tod und daher zum Unglück der Arbeiterfamilien, die der Vorsorge und der Stütze des Familienhaupts grade im notwendigsten Augenblick beraubt werden" ("are deprived").85)

Wir waren eben in Irland. Auf der andren Seite des Kanals, in Schottland, denunziert der Ackerbauarbeiter, der Mann des Pfluges, seine 13- bis 14stündige Arbeit, im rauhsten Klima, mit vierstündiger Zusatzarbeit für den Sonntag (in diesem Lande der Sabbat-Heiligen!)86), während vor einer Londoner Grand Jury gleichzeitig drei Eisenbahnarbeiter stehn, ein Personenkondukteur, ein Lokomotivführer und ein Signalgeber. Ein großes Eisenbahnunglück hat Hunderte von Passagieren in die andre Welt expediert. Die Nachlässigkeit der Eisenbahnarbeiter ist die Ursache des Unglücks. Sie erklären vor den Geschwornen einstimmig, vor 10 bis 12 Jahren habe ihre Arbeit nur 8 Stunden täglich gedauert. Während der letzten 5-6 Jahre habe man sie auf 14, 18 und 20 Stunden aufgeschraubt und bei besonders lebhaftem Zudrang der Reiselustigen, wie in den Perioden der Exkursionszüge, währe sie oft ununterbrochen 40-50 Stunden. Sie seien gewöhnliche Menschen und keine Zyklopen. Auf einem gegebnen Punkt versage ihre Arbeitskraft. Torpor ergreife sie. Ihr Hirn höre auf zu denken und ihr Auge zu sehn. Der ganz und gar "respectable Britisch Juryman" antwortet durch ein Verdikt, das sie wegen "manslaughter" (Totschlag) vor die Assisen schickt und in einem milden Anhang den frommen Wunsch äußert, die Herren Kapitalmagnaten der Eisenbahn möchten doch in Zukunft verschwenderischer im Ankauf der nötigen Anzahl von "Arbeitskräften" und "enthaltsamer" oder "entsagender" oder "sparsamer" in der Aussaugung der bezahlten Arbeitskraft sein.87)

Aus dem buntscheckigen Haufen der Arbeiter von allen Professionen, Altern, Geschlechtern, die eifriger auf uns andrängen als die Seelen der Erschlagnen auf den Odysseus und denen man, ohne die Blaubücher unter ihren Armen, auf den ersten Blick die Überarbeit ansieht, greifen wir noch zwei Figuren heraus, deren frappanter Kontrast beweist, daß vor dem Kapital alle Menschen gleich sind - eine Putzmacherin und einen Grobschmied.

In den letzten Wochen vom Juni 1863 brachten alle Londoner Tagesblätter einen Paragraph mit dem "sensational" Aushängeschild: "Death from simple Overwork" (Tod von einfacher Überarbeit). Es handelte sich um den Tod der Putzmacherin Mary Anne Walkley, zwanzigjährig, beschäftigt in einer sehr respektablen Hofputzmanufaktur, exploitiert von einer Dame mit dem gemütlichen Namen Elise. Die alte oft erzählte Geschichte ward nun neu entdeckt 88), daß diese Mädchen durchschnittlich 161/2 Stunden, während der Saison aber oft 30 Stunden ununterbrochen arbeiten, indem ihre versagende "Arbeitskraft" durch gelegentliche Zufuhr von Sherry, Portwein oder Kaffee flüssig erhalten wird. Und es war grade die Höhe der Saison. Es galt, die Prachtkleider edler Ladies für den Huldigungsball bei der frisch importierten Prinzessin von Wales im Unsehn fertigzuzaubern. Mary Anne Walkley hatte 261/2 Stunden ohne Unterlaß gearbeitet zusammen mit 60 andren Mädchen, je 30 in einem Zimmer, das kaum 1/3 der nötigen Kubikzolle Luft gewährte, während sie nachts zwei zu zwei ein Bett teilten in einem der Sticklöcher, worin ein Schlafzimmer durch verschiedne Bretterwände abgepfercht ist.89) Und dies war eine der besseren Putzmachereien Londons. Mary Anne Walkley erkrankte am Freitag und starb am Sonntag, ohne, zum Erstaunen von Frau Elise, auch nur vorher das letzte Putzstück fertigzumachen. Der zu spät ans Sterbebett gerufne Arzt, Herr Keys, bezeugte vor der "Coroner's Jury" [Totenschaukommission] in dürren Worten:

"Mary Anne Walkley sei gestorben an langen Arbeitsstunden in einem überfüllten Arbeitszimmer und überengem, schlechtventiliertem Schlafgemach."

Um dem Arzt eine Lektion in guter Lebensart zu geben, erklärte dagegen die "Coroner's Jury":

"Die Hingeschiedne sei gestorben an der Apoplexie, aber es sei Grund, zu fürchten, daß ihr Tod durch Überarbeit in einer überfüllten Werkstatt usw. beschleunigt worden sei."

Unsre "weißen Sklaven", rief der "Morning Star" das Organ der Freihandelsherrn Cobden und Bright, "unsere weißen Sklaven werden in das Grab hineingearbeitet und verderben und sterben ohne Sang und Klang".90)

"Zu Tod arbeiten ist die Tagesordnung, nicht nur in der Werkstätte der Putzmacherinnen, sondern in tausend Plätzen, ja an jedem Platz, wo das Geschäft im Zug ist ... Laßt uns den Grobschmied als Beispiel nehmen. Wenn man den Dichtern glauben darf, gibt es keinen so lebenskräftigen, lustigen Mann als den Grobschmied. Er erhebt sich früh und schlägt Funken vor der Sonne; er ißt und trinkt und schläft wie kein anderer Mensch. Rein physisch betrachtet, befindet er sich, bei mäßiger Arbeit, in der Tat in einer der besten menschlichen Stellungen. Aber wir folgen ihm in die Stadt und sehn die Arbeitslast, die auf den starken Mann gewälzt wird, und welchen Rang nimmt er ein in den Sterlichkeitslisten unsres Landes? In Marylebone" (einem der größten Stadtviertel Londons) "sterben Grobschmiede in dem Verhältnis von 31 per 1000 jährlich, oder 11 über der Durchschnittssterblichkeit erwachsner Männer in England. Die Beschäftigung, eine fast instinktive Kunst der Menschheit, an und für sich tadellos, wird durch bloße Übertreibung der Arbeit der Zerstörer des Mannes. Er kann so viel Hammerschläge täglich schlagen, so viel Schritte gehn, so viel Atemzüge holen, so viel Werk verrichten, und durchschnittlich sage 50 Jahre leben. Man zwingt ihn, so viel mehr Schläge zu schlagen, so viel mehr Schritte zu gehn, so viel öfter des Tags zu atmen, und alles zusammen seine Lebensausgabe täglich um ein Viertel zu vermehren. Er macht den Versuch, und das Resultat ist, daß er für eine beschränkte Periode ein Viertel mehr Werk verrichtet und im 37. Jahre statt im 50. stirbt."91)

 


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