[Mathematik]


Die nächste Folge, die sich aus dieser Behauptung ergeben würde, wäre für die Mathematik, dass sie eine bloße Erfahrungswissenschaft sei; denn was die Folge eines Willens, und demnach zufällig ist, da es ebensogut nicht sein könnte, kann bloß erfahren, nicht wie man sagt a priori gewußt werden. Dem widerspricht aber schon, dass es in der Erfahrung keinen Punkt gibt, in der Wirklichkeit keine Linie, die vollkommen gerade, oder ohne alle Breite wäre, woraus auf jeden Fall folgen würde, dass bei den ersten Begriffen oder Voraussetzungen der Geometrie etwas anderes im Spiel ist als bloße Erfahrung. Ich sage auf jeden Fall: denn mit dem Allgemeinen, dass die Mathematik eine apriorische Wissenschaft sei, ist die Sache auch nicht abgetan, ich kann mich aber hier auf die spezielle Untersuchung der Genesis der mathematischen Wahrheiten nicht einlassen und muß dieselbe für eine andere Gelegenheit vorbehalten. Am meisten aber widerspricht der Behauptung (dass die mathematischen Lehren nur wahr sein sollen infolge des göttlichen Willens) die ganze Natur der Mathematik. Denn wo immer Wille dazwischen kommt, ist von Wirklichem die Rede; aber offenbar ist, dass die Geometrie z.B. nicht um das wirkliche, sondern nur um das mögliche Dreieck sich bemüht, und der Sinn keines ihrer Sätze ist, dass dem wirklich so sei, sondern dass es nicht anders sein könne, und das Dreieck z.B. nur so möglich ist, dass seine Winkel zusammengenommen zweien rechten gleich sind, wo dann freilich folgt, dass das Dreieck auch so sein wird, wenn es Ist, aber dass es Ist, als ganz gleichgültig betrachtet wird. Die Folge in bezug auf die Mathematik würde nun freilich wohl Descartes am wenigsten zugegeben haben; aber es ist darum nicht weniger war, dass sie aus seiner Ableitung der ewigen Wahrheiten von dem göttlichen Willen unabwendlich folgt, und dass mit dieser Annahme den Wissenschaften überhaupt alle ewig gültige Wahrheit entzogen wäre. Man könnte, wie Peter Bayle, aus Descartes Ausspruch den Schluß ziehen, dass 3 + 3 = 6 nur wahr ist, wo und so lang es Gott gefällt, dass es vielleicht unwahr ist in andern Regionen des Weltalls und im nächsten Jahr auch für uns aufhört wahr zu sein. Von ernsteren Folgen aber würde die Sache sein, wenn die Lehre auf das sittliche und religiöse Gebiet übergetragen würde, wie dies durch einige Theologen der reformierten Kirche geschah, die sich durch die Lehre vom decretum absolutum bis zu der Meinung fortreißen ließen, dass auch der Unterschied von Gut und Bös kein objektiver, sondern allein durch den göttlichen Willen festgesetzter sei. Vondieser Seite besonders hat Descartes der oben erwähnte Bayle angegriffen, dessen Worte, die Leibniz einer Stelle in seiner Theodizee nicht unwürdig gefunden, ich auch hier wiederholen darf. »Eine Menge der ernstesten Autoren,« sagt er, »erklären sich dafür, dass es jedem göttlichen Gebot vorausgehend und unabhängig von einem solchen in der Natur der Dinge selbst ein Gutes und ein Böses gibt. Zum Erweis dieser Behauptung gelten ihnen besonders die abscheulichen Folgen der entgegengesetzten Lehre, aber es gibt ein direkt treffendes, aus der Metaphysik hergenommenes Argument. Es ist eine gewisse Sache, dass Gottes Existenz nicht eine Folge seines Willens ist; er existiert nicht, weil er will, und wenn er ebensowenig allmächtig oder allwissend ist, weil er es sein will, so kann sich sein Wille überhaupt nur auf außer ihm Seiendes erstrecken, doch auch so nur darauf, dass es Ist, nicht aber auf das, was zum Wesen desselben gehört. Gott, wenn er wollte, konnte die Materie, den Menschen, den Kreis nicht wirklich machen, aber unmöglich war ihm, sie wirklich zu machen, ohne ihnen ihre wesentlichen Eigenschaften mitzuteilen, die demnach nicht von seinem Wollen abhängen«*). Man darf es mit geistreichen Reden nicht zu strenge nehmen; sonst könnte man in Bayles Worten die Meinung durchschimmern sehen, dass die Existenz Gottes eine ewige Wahrheit in demselben Sinne sei, in Welchem ihm 3 + 3 = 6 eine solche ist; eine Meinung, der man sich doch vielleicht ebensowohl versucht finden könnte zu widersprechen, wie jener Abt eines Klosters, der den allzu eifrigen Lehrer, welcher sich hatte hinreißen lassen, zu sagen, Gottes Dasein sei so gewiß, als dass 2 mal 2 vier sei, wegen dieses Ausspruchs zurechtwies, indem er hinzusetzte, Gottes Dasein sei weit gewisser als dass 2 x 2 = 4 sei. Ich begreife vollkommen, wenn, wie ferner erzählt wird, die Zuhörenden über eine solche Äußerung lachten, wie ich begreife, dass es auch jetzt noch Menschen genug gibt, die nicht begreifen können, wie etwas gewisser sein könne als dass 2 x 2 = 4 ist. Ohne den Ausdruck untersuchen zu wollen, ist gewiß, dass es Wahrheiten von verschiedener Ordnung gibt, und dass den Wahrheiten der Arithmetik und der Mathematik überhaupt schon darum nicht unbedingte Gewißheit beiwohnen kann, weil diese Wissenschaften, wie ich in meiner frühern Vorlesung aus Platon angeführt, mit Voraussetzungen zu Werk gehen, die sie selbst nicht rechtfertigen, und damit, was deren Wert und Geltung betrifft, einen höheren Gerichtshof anerkennen; ferner weil sie vieles nur erfahrungsmäßig wissen, z.B. von geraden und ungeraden, abgeleiteten und Primzahlen, für welche sie noch nicht einmal ein Gesetz des gegenseitigen Abstandes gefunden.

 

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*) Erdmannsche Ausgabe von Leibniz, S. 560, § 183.


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