1. Kapitel

Die Regierung im Allgemeinen

 

Um von den verschiedenen Verhältnissen, die zwischen den äußeren Gliedern stattfinden können, eine einigermaßen deutliche Vorstellung zu geben, will ich die Volkszahl zum Beispiel nehmen, da sie ein am leichtesten auszudrückendes Verhältnis bildet.

Nehmen wir an, dass der Staat aus zehntausend Bürgern bestehe. Das Staatsoberhaupt kann nur in der Gesamtheit und im Ganzen betrachtet werden; jeder einzelne kommt dagegen als Untertan für sich allein in Betracht. Demnach verhält sich das Staatsoberhaupt zum Untertan wie zehntausend zu einem, das heißt, jedes Glied des Staates besitzt nur den zehntausendsten Teil der oberherrlichen Gewalt, obgleich er ihr gänzlich unterworfen ist. Gesetzt den Fall, das Volk bestehe aus hunderttausend Bürgern, so ändert sich die Stellung der Untertanen dadurch nicht, und jeder trägt in gleicher Weise die ganze Herrschaft der Gesetze, während seine auf den hunderttausendsten Teil zurückgeführte Stimme bei der Abfassung der Gesetze einen zehnmal geringeren Einfluss ausübt. Während nun der Untertanen stets eins bleibt, nimmt das Verhältnis des Staatsoberhauptes mit der wachsenden Anzahl der Staatsbürger zu. Hieraus folgt, dass die Freiheit mit der Vergrößerung des Staates stetig abnimmt. Wenn ich sage, das Verhältnis nehme zu, so verstehe ich darunter, dass es sich von der Gleichheit entfernt. Je größer also das Verhältnis im mathematischen Sinne ist, desto kleiner ist es im gewöhnlichen. Im ersteren Sinne wird das Verhältnis der Zahl nach betrachtet und mit Hilfe des Exponenten gemessen, im letzteren seiner Identität nach betrachtet und seiner Ähnlichkeit nach veranschlagt.

Je weniger nun der Wille der einzelnen mit dem allgemeinen, das heißt, je weniger die Sitten mit den Gesetzen übereinstimmen, desto mehr muss hemmende Kraft zunehmen. Eine Regierung muss deshalb, will sie anders gut sein, mit der wachsenden Volkszahl immer stärker werden.

Da andererseits die Vergrößerung des Staates den Trägern der Staatsgewalt mehr Versuchungen und Mittel gibt, ihre Macht zu missbrauchen, so muss die Regierung größere Gewalt bekommen, das Volk in Schranken, und der Fürst seinerseits ebenfalls, um die Regierung im Zaume zu halten. Ich spreche hier nicht von einer unumschränkten Gewalt, sondern von der relativen Gewalt der verschiedenen Teile des Staates.

Aus diesem doppelten Verhältnisse ergibt sich, dass die stetige Proportion zwischen dem Staatsoberhaupte, Fürsten und Volke nicht etwa eine willkürliche Idee ist, sondern eine notwendige Folge der Natur des politischen Körpers. Ferner folgt daraus: da eines der äußeren Glieder, und zwar das Volk als Untertan unveränderlich ist und durch die Einheit dargestellt wird, so muss, so oft das doppelte Verhältnis zu- oder abnimmt, auch das einfache in gleicher Weise zu- oder abnehmen, und folglich das mittlere Glied verändert werden. Dies beweist, dass es keine an sich vorzügliche und unbedingt gute Regierungsverfassung gibt, sondern dass es ebenso viele ihrem Wesen nach verschiedene Regierungen geben kann wie ihrer Größe nach verschiedene Staaten.

Wollte man dieses System ins Lächerliche ziehen und sagen, dass man, um diese mittlere Proportionale zu finden und den Regierungskörper zu bilden, nach meiner Beweisführung nur die Quadratwurzel aus der Volkszahl zu ziehen brauche, so würde ich erwidern, dass ich die Zahl nur als Beispiel anwende; dass sich die Verhältnisse, von denen ich rede, nicht allein nach der Zahl der Menschen berechnen lassen, sondern auch im allgemeinen nach der Summe der Tätigkeit, die sich aus der Menge der Ursachen ergibt; dass ich übrigens, wenn ich auch, um mich kürzer auszudrücken, einen Augenblick lang der Mathematik einige Ausdrücke entlehne, trotzdem sehr wohl weiß, dass bei geistigen Größen keine mathematische Bestimmtheit stattfindet.

Die Regierung ist im kleinen, was der politische Körper, der sie in sich schließt, im großen ist: eine geistige, mit gewissen Fähigkeiten ausgestattete Person, tätig wie das Staatsoberhaupt, leidend wie der Staat und fähig, sich in andere ähnliche Verhältnisse zerlegen zu lassen. In dem Moment entsteht eine neue Proportion und in dieser immer wieder eine andere, je nach der Reihenfolge der Zerlegungen, bis man schließlich zu einem unteilbaren Mittelgliede gelangt, das heißt zu einem einzigen Oberhaupte oder zu einer höchsten Behörde, die man sich inmitten dieser Progression wie die Einheit zwischen der Reihe der Brüche und der der Zahlen vorstellen kann.

Um uns nicht durch Vervielfältigung der Ausdrücke zu verwirren, wollen wir uns damit begnügen, die Regierung als einen neuen Körper im Staate zu betrachten, der vom Volke wie vom Staatsoberhaupte unterschieden und der Vermittler zwischen beiden ist.

Zwischen diesen beiden Körpern besteht der wesentliche Unterschied, dass der Staat durch sich selbst und die Regierung lediglich durch das Staatsoberhaupt existiert. Mithin ist der herrschende Wille des Fürsten nichts anderes oder soll wenigstens nichts anderes sein als der allgemeine Wille oder das Gesetz; seine Gewalt ist nur die in ihm vereinte Staatsgewalt; sobald er aus eigener Kraft irgendeinen willkürlichen und unabhängigen Akt vornehmen will, beginnt das Band des Ganzen sich zu lockern. Träte endlich der Fall ein, dass der Fürst einen besonderen Willen hätte, der tätiger als der des Staatsoberhauptes wäre, und er die in seinen Händen ruhende Staatsgewalt anwendete, um diesem besonderen Willen Gehorsam zu verschaffen, so dass man gleichsam zwei Oberhäupter hätte, eins dem Rechte und das andere der Tat nach, so würde sofort die gesellschaftliche Vereinigung aufgehoben und der politische Körper aufgelöst sein. Damit der Regierungskörper indessen wirkliches Dasein und Leben erhalte, das ihn vom Staatskörper unterscheidet; damit alle seine Glieder in Übereinstimmung wirken und dem Zwecke entsprechen können, für den er bestimmt ist, hat er ein besonderes Ich nötig, ein seinen Gliedern gemeinschaftliches Gefühl der Zusammengehörigkeit, eine eigentümliche auf seine Erhaltung gerichtete Kraft und einen ebensolchen Willen. Dieses besondere Dasein setzt Zusammenkünfte, Beratungen, das Vermögen zu erwägen und Beschlüsse zu fassen, sowie Rechte, Rechtsansprüche und Privilegien voraus, die dem Fürsten ausschließlich zustehen und den Stand der Obrigkeit um so ehrenvoller machen, je größere Mühe mit ihm verbunden ist. Die Schwierigkeit beruht darauf, dieses untergeordnete Ganze in dem Staatsganzen dergestalt zu ordnen, dass es die allgemeine Verfassung nicht durch Befestigung seiner eigenen ändern, dass es stets die zu seiner eigenen Erhaltung bestimmte besondere Gewalt von der Staatsgewalt, die zur Erhaltung des Staates dienen soll, unterscheide; kurz, dass es beständig bereit sei, die Regierung dem Volke und nicht das Volk der Regierung aufzuopfern.

Obgleich übrigens der künstliche Körper der Regierung das Werk eines andern künstlichen Körpers ist und gewissermaßen nur ein geliehenes und untergeordnetes Leben besitzt, so kann sie trotzdem mit mehr oder weniger Kraft und Geschwindigkeit handeln und sich sozusagen einer stärkeren oder schwächeren Gesundheit erfreuen. Endlich kann sie, ohne sich geradezu von dem Zwecke ihrer Einsetzung zu entfernen, je nach der Art ihrer Verfassung mehr oder weniger davon abweichen.

Aus allen diesen Verschiedenheiten gehen nur die verschiedenen Verhältnisse hervor, die zwischen der Regierung und dem Staatskörper bestehen müssen je nach den zufälligen und besonderen Beziehungen, infolge deren dieser Staat in unaufhörlicher Umwandlung begriffen ist. Denn oft wird die an sich beste Regierung die fehlerhafteste sein, wenn ihre Verhältnisse nicht nach den Mängeln des politischen Körpers, dem sie angehört, abgeändert werden.

 


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