4. Kapitel
Grenzen der oberherrlichen Macht
Man muss verstehen, dass weniger die Anzahl der Stimmen den Willen verallgemeinert als vielmehr das allgemeine Interesse, die sie vereinigt, denn bei dieser Einrichtung unterwirft sich ein jeder den Bedingungen, die er den anderen auferlegt. Es herrscht ein bewundernswerten Einklang des Interesses und der Gerechtigkeit, der den gemeinsamen Beschlüssen einen Charakter der Billigkeit verleiht, die bei der Erörterung jeder Privatangelegenheit sichtlich verloren geht, weil kein gemeinschaftliches Interesse vorhanden ist, das die Anschauung des Richters mit der der Partei in Einklang und Übereinstimmung bringt.
Von welcher Seite aus man auch auf das Prinzip zurückgehen möge, stets gelangt man zu dem Schlusse, dass der Gesellschaftsvertrag unter den Staatsbürgern eine derartige Gleichheit herstellt, dass sich alle auf dieselben Bedingungen hin verpflichten und alle derselben Rechte genießen müssen. Der Natur des Vertrages gemäß verpflichtet oder begünstigt jede Handlung der Staatshoheit, d.h. jede authentische Handlung des allgemeinen Willens, alle Staatsbürger in gleicher Weise, so dass das Staatsoberhaupt lediglich den Körper der Nation kennt und von allen, die ihn bilden, keinen unterscheidet. Was ist denn nun eigentlich eine Handlung der Staatshoheit? Nicht eine Übereinkunft des Höheren mit dem Niederen, sondern eine Übereinkunft des Körpers mit jedem seiner Glieder; sie ist rechtmäßig, weil sie den Gesellschaftsvertrag zur Grundlage hat; sie ist billig, weil alle gleichen Anteil daran haben; sie ist nützlich, weil sie nur auf das allgemeine Beste ausgehen kann und auch dauerhaft, da die Staatskraft und die oberste Gewalt für sie eintreten. Solange die Untertanen nur den in solcher Übereinkunft angenommenen Gesetzen unterworfen sind, gehorchen sie niemand als ihrem eigenen Willen; und die Frage aufstellen, bis wohin sich die gegenseitigen Rechte des Staatsoberhauptes und der Staatsbürger erstrecken, heißt nichts anderes als fragen, bis wie weit sich letztere gegen sich selbst, jeder gegen alle und alle gegen jeden verpflichten können.
Hieraus ist ersichtlich, dass die oberherrliche Gewalt, so unumschränkt, heilig und unverletzlich sie auch ist, die Grenzen der allgemeinen Übereinkunft weder überschreitet noch überschreiten kann, und dass jeder Mensch über den ihm durch diese Übereinkünfte gebliebenen Teil seiner Güter und seiner Freiheit vollkommen unbehindert verfügen kann, so dass dem Staatsoberhaupte nie das Recht zusteht, einen Untertan stärker als den andern zu belasten, weil dies zu einer Privatangelegenheit wird, deren Entscheidung nicht in seiner Macht liegt.
Bei Annahme dieser Unterscheidungen ist die Behauptung einer wirklichen Entsagung von seiten der einzelnen im Gesellschaftsvertrage so falsch, dass sich vielmehr eine wesentliche Verbesserung ihrer Lage gegen früher als Folge dieses Vertrages nachweisen lässt. Anstatt einer Veräußerung haben sie nur einen vorteilhaften Tausch gemacht, indem sie für eine unsichere und ungewisse Lebensweise eine bessere und gesichertere, für die natürliche Unabhängigkeit Freiheit, für die Macht, andern zu schaden, ihre eigene Sicherheit und für ihre Kraft, die andere zu überwinden vermochte, ein Recht eintauschten, das die gesellschaftliche Verbindung unbesieglich macht. Sogar ihr Leben, das sie nun dem Staate geweiht haben, wird von demselben beständig geschützt, und was tun sie, wenn sie es zu seiner Verteidigung der Gefahr aussetzen, anderes als dass sie ihm das von ihm Erhaltene zurückerstatten? Würden sie nicht im Naturzustand dasselbe weit häufiger und mit weit größerer Gefahr tun müssen, wenn sie das zum Lebensunterhalte Nötige unter unvermeidlichen Kämpfen mit Lebensgefahr verteidigten? Im Notfalle müssen allerdings alle für das Vaterland kämpfen, aber niemand braucht auch für sich selbst zu kämpfen. Haben wir also nicht noch Gewinn dabei, wenn wir uns für das, was unsere Sicherheit bildet, einem Teile der Gefahren aussetzen, denen wir uns, sobald uns jene Sicherheit genommen wäre, doch aussetzen müssten?