Über Selbstmord

 

  Ein wichtiger Gewinn, welcher aus der Philosophie kommt, besteht darin, dass sie das allein wirksame Gegengift gegen Aberglauben und falsche Religion liefert. Alle übrigen Heilmittel gegen diese verderbliche Krankheit sind vergeblich oder wenigstens unsicher. Schlichter gesunder Verstand und Weltkenntnis, welche für die meisten Vorfälle des Lebens ausreichen, erweisen sich hier als unwirksam: Geschichte und tägliche Erfahrung bieten Beispiele von Männern, welche, mit den größten Fähigkeiten für Geschäft und Leben ausgestattet, ihr Leben lang dem gröbsten Aberglauben knechtisch unterworfen geblieben sind. Selbst Heiterkeit und Milde des Temperaments, welche Balsam in jede andere Wunde gießen, bieten kein Heilmittel gegen ein so bösartiges Gift, wie besonders daraus hervorgeht, dass das schöne Geschlecht, obwohl es gewöhnlich mit diesen reichen Gaben von der Natur ausgestattet ist, so manchen Tag von jenem lästigen Eindringling verkümmert sieht. Hat aber gesunde Philosophie einmal die Herrschaft über den Geist gewonnen, dann ist Aberglaube tatsächlich ausgeschlossen; und man kann zuversichtlich behaupten, dass ihr Sieg über diesen Feind vollständiger ist als über die meisten Laster oder Unvollkommenheiten, denen die menschliche Natur unterworfen ist. Liebe oder Zorn, Ehrgeiz oder Habsucht haben ihre Wurzel in dem Temperament und den Empfindungen, welche auch die gesündeste Vernunft kaum jemals imstande ist, ganz ins Rechte zu bringen; der Aberglaube hingegen, welcher auf falscher Meinung beruht, muss unmittelbar verschwinden, sobald wahre Philosophie richtigere Ansichten über höhere Mächte eingeflößt hat. Hier ist der Kampf zwischen Krankheit und Heilmittel mehr ein gleicher, und das letztere kann sich wirksam zu erweisen durch nichts verhindert werden als durch seine eigne Unwahrheit und Verfälschtheit.

 Es würde überflüssig sein, die Verdienste der Philosophie durch Entwickelung des verderblichen Einflusses jenes Fehlers, von welchem sie den menschlichen Geist heilt, zu erheben. Der Abergläubische, sagt Tullius1, ist in jeder Lage, in jedem Vorfall des Lebens elend; selbst der Schlaf, welcher den unglücklichen Sterblichen alle andern Sorgen abnimmt, bietet ihm neuen Anlass zum Schrecken, wenn er seine Träume befragt und in den Nachtgesichtern zukünftiges Unglück vorbedeutet findet. Ich füge hinzu, dass er, obwohl der Tod allein seinem Elend eine Grenze zu setzen vermag, an diesen Zufluchtsort zu fliehen nicht wagt, sondern ein elendes Dasein fortschleppt, aus leerer Furcht, dass er durch Gebrauch einer Kraft, welche ihm sein Schöpfer gab, jenes gütige Wesen beleidige. Die Gaben Gottes und der Natur werden uns durch diesen grausamen Feind geraubt, und wo uns ein Schritt aus dem Ort des Schmerzes und der Sorge herausführen würde, ketten uns seine Drohungen an ein verhasstes Dasein, welches elend zu machen derselbe in erster Reihe beiträgt.

 Es ist bemerkt worden, dass diejenigen, welche durch die Unglücksfälle des Lebens zur Anwendung dieses letzten Heilmittels sich genötigt sahen, wenn sie durch die unzeitige Fürsorge ihrer Freunde der erwählten Todesart beraubt werden, selten eine andere wagen oder zum zweiten Mal so viel Entschluss zuwege bringen, um ihr Vorhaben auszuführen. So groß ist unser Schauder vor dem Tode, dass derselbe, wenn er sich in einer andern Gestalt darbietet, als derjenigen, mit welcher man seine Einbildungskraft auszusöhnen sich bemüht hat, neue Schrecken erhält und den schwachen Mut eines Menschen überwältigt. Kommen zu dieser natürlichen Furchtsamkeit noch die Drohungen des Aberglaubens, so ist es kein Wunder, dass die Menschen alle Gewalt über ihr Leben verlieren, da selbst manche Lust und Freude, zu der wir durch eine starke Neigung hingezogen werden, uns durch diesen grausamen Tyrannen entrissen werden. Wir wollen hier versuchen, den Menschen in seine angeborne Freiheit wieder einzusetzen, indem wir alle Argumente gegen den Selbstmord prüfen und zeigen, dass diese Handlung frei von Schuld oder Tadel sein mag, wie dies auch die gemeine Ansicht aller alten Philosophen ist.

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1 De Divinat. lib. II.

 


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