Zum Hauptinhalt springen

Zehn Gebote

Vor mir liegt ein kleines Bändchen, das im Buchhandel ganz vergriffen ist. Es ist nur wenige Seiten stark, das kleine Druckbild ist auf jeder Seite mit einem kräftigen roten Rand umgeben, die Blätter sind einseitig bedruckt. Und es ist wahrscheinlich von Schleiermacher.

Bekanntlich fängt die Weltgeschichte immer zehn Jahre vor der Geburt eines jeden Menschen an: was vorher liegt, lernt er zwar in der Schule, aber es ist ihm gleichgültig. Aber das hat jeder empfunden: den Knack, den es zwischen seiner Generation und der seiner Eltern gegeben hat, den ›Fortschritt‹, die aufbegehrende Opposition, die da sagte: Achtung! Jetzt kommen wir!

Das Spiel ist alt und immer neu. Und weil es manchmal gut tut, sich zu überlegen, wie so sehr recht jener Ben Akiba hatte, und wie das mit dem Fortschritt so seine eigene Bewandtnis hat, hört zu:

Im ›Athenäum‹, jener Zeitschrift, die die beiden Schlegel begründet hatten, erschienen zwischen 1796 und 1798 anonyme Fragmente, die zum Teil von den Schlegels, zum Teil von Schleiermacher stammten. Dilthey hat in seinem Werk ›Leben Schleiermachers‹ (1. Band, Berlin 1870) untersucht, wem die einzelnen Fragmente zuzuschreiben wären, und hat herausgefunden, welchen Anteil Schleiermacher an diesen Dingen hat. Nun findet sich im Anhang zu dem Werk Diltheys etwas so Wunderschönes, dass es einem jetzt eingegangenen Verlag, Ernst Frensdorff zu Berlin, nur allzu richtig dünkte, diese ›Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen‹ abzudrucken. Das Büchelchen war bald vergriffen und ist seitdem nicht mehr neu aufgelegt worden.

Kannte Schleiermacher Ibsen? Kannte er Wyneken? Ich glaube nicht. Wußte er etwas von den ›Menschenrechten der Frau‹? Wer hatte ihm das gesagt? Schmachtete die Frau damals nicht noch in den Eisenketten der Tradition, die ihr den Eintritt in das Leben verwehrte? Unsere Modernen behaupten es. Mag sein, dass die unbarmherzige Wirtschaft die Frauen noch nicht in das hinausjagte, was man heute euphemistisch Leben zu nennen beliebt – sicherlich aber hatte schon Schleiermacher eines gewußt: die Frau ist ein Mensch mit vollem Rechte, aber sie ist kein Mann. Sie hat Rechte –: aber ihre eigenen.

Und weil das so gar nicht pastoral ist, was er da sagt, so gar nicht eingedämmt und eingeengt, sondern frei und offen, und weil es auch heute noch – auch heute noch – am Platze ist, Fundamentalwahrheiten zu hören, deswegen sollen diese zehn Gebote hier stehen:

  1. Du sollst keinen Geliebten haben neben ihm; aber du sollst Freundin seyn können, ohne in das Kolorit der Liebe zu spielen und zu kokettieren oder anzubeten.

  2. Du sollst dir kein Ideal machen, weder eines Engels im Himmel, noch eines Helden aus einem Gedicht oder Roman, noch eines selbstgeträumten oder fanatisierten; sondern du sollst einen Mann lieben, wie er ist. Denn sie, die Natur, deine Herrin, ist eine strenge Gottheit, welche die Schwärmerey der Mädchen heimsucht an den Frauen bis ins dritte und vierte Zeitalter ihrer Gefühle.

  3. Du sollst von den Heiligthümern der Liebe auch nicht das kleinste mißbrauchen: denn die wird ihr zartes Gefühl verlieren, die ihre Gunst entweiht und sich hingiebt für Geschenke und Gaben, oder um nur in Ruhe und Frieden Mutter zu werden.

  4. Merke auf den Sabbath deines Herzens, dass du ihn feyerst, und wenn sie dich halten, so mache dich frey oder gehe zu Grunde.

  5. Ehre die Eigenthümlichkeit und die Willkühr deiner Kinder, auf dass es ihnen wohlgehe, und sie kräftig leben auf Erden.

  6. Du sollst nicht absichtlich lebendig machen.

  7. Du sollst keine Ehe schließen, die gebrochen werden müßte.

  8. Du sollst nicht geliebt seyn wollen, wo du nicht liebst.

  9. Du sollst nicht falsch Zeugniß ablegen für die Männer; du sollst ihre Barbarey nicht beschönigen mit Worten und Werken.

  10. Laß dich gelüsten nach der Männer Bildung, Kunst, Weisheit und Ehre!

Denn sie, die Natur, deine Herrin, ist eine strenge Gottheit …

O Hysterie! O Hedda! Und das um 1797!

Ich glaube aber, dass das vierte Gebot Schleiermachers die knappste und härteste Formulierung dessen darstellt, um das ganze Literaturen gerungen haben: die Liebe.

Peter Panter
Berliner Tageblatt, 10.07.1919, Nr. 312.