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Vorher!

Bei Albert Langen ist im Jahre 1910 ein Buch erschienen, das bereits hundertmal vorher geschrieben worden ist und noch Hunderte von Malen nachher geschrieben werden wird. Es heißt ›Hinter Schloß und Riegel‹ und schildert mit unerbittlicher Genauigkeit die deutsche Art der Strafverbüßung in einem Zuchthaus. Es ist jetzt nicht die Zeit, die längst erkannten Fehler dieser Sühne aufzuzählen – genug, so wie es Tausende getroffen hat, so traf es in diesem Buche, das sich in nichts von seinen Brüdern unterscheidet, einen Juristen. Der sah nun seine Welt von unten, wunderte sich und schrieb das Werk.

Aber er hätte es vorher schreiben sollen! Da hätte ers nicht gekonnt? Dann hat er keine Augen gehabt.

In dem Buche ›Hinter Schloß und Riegel‹ zählt der so deutsche Verfasser minutiös die Quälereien seines wasserpolackischen Wärters auf, schildert seine widerlichen Roheiten an den wehrlosen Gefangenen, die er nicht etwa schlug, sondern mit Nadelstichen peinigte – man kennt das; die Schilderung langweilt den, der die Augen in seinem Leben aufgemacht hat. Sehen wir das nicht alle Tage? Dem Deutschen hat einmal einer mangelnden Sinn für Wirklichkeit vorgeworfen: hier offenbart er sich aufs herrlichste.

Oben stelzt unantastbar, sauber, und hinter sich im wesenlosen Scheine das, was uns alle bändigt: oben stelzt – nun, sagen wir, dieser und jener. Das Podium wird gehalten und getragen von Kaschuben, von dickköpfigen, meist minderwertigen Menschen, für die es keine nähere Bezeichnung gibt, die man kennen und lieben gelernt haben muß.

Diese Burschen – es ist eine ganze breite Klasse, und jeder von uns kennt sie; wer im Kriege ist, doppelt und dreifach – diese Burschen vertreten nach unten hin die Macht. In ihnen ist der jeweils Regierende personifiziert – aber welch ein Zerrbild! Man müßte die Gattung konfiszieren, weil sie das tut, was der ›Charivari‹ in seinen besten Zeiten nicht besser gekonnt hat: weil sie die Macht in einem Lachspiegel höhnen.

Aber sie werden gehalten. Vielleicht weiß es der Herr aus dem obern Stockwerk, dass der Pförtner die Leute peinigt, dass er seine Vorteile und Vorteilchen aus seinem Amt schlägt, aber vor allem: dass er den König macht. Er macht ihn, wie ihn der Gockel macht, der sich auf dem Hühnerhof aufbläht – aber dieser ist so unendlich gefährlich, weil er schaden kann, weil er eine kleine oder große Macht geliehen bekommen hat, die er benutzt, als wäre es seine eigene. Das war die Absicht der Herrschaft nicht? Aber dann möge sie aufpassen, dann soll sie wissen, dass der da unten, alles, aber alles verdirbt, was sie in gutem deutschen Idealismus plante. »In Preußen«, heißt ein altes Wort, »sind die Geheimräte liberal.« Nun, das Wort stammt aus dem Frieden und stimmt heute nicht mehr ganz – aber der bewußte Gegensatz, in den man die Geheimräte zu jemand anderm setzen wollte, ist richtig.

Wir verdanken unsre Unbeliebtheit, die Schwierigkeiten, die man uns heute noch überall macht, nicht den höhern Beamten und ihren meist verständigen Anordnungen. Wer aber einmal die Wandlungen gesehen hat, die ein guter und von gutem Geist diktierter Befehl, ein Erlaß, eine Verfügung gemacht hat, ehe er unten ankommt, wer einmal gesehen hat, wie das Zehnpfennigstück, das als Geschenk gedacht war, auf dem Hofe aufschlägt, der weiß, dass es nicht genug getan ist, wenn der Geist erfindet und sich etwas ausdenkt – er muß auch überwachen und ständig auf der Lauer sein, dass nicht umgefälscht wird, was aus einem reinen Herzen kam. Vorher! vorher müssen wir das tun, nicht nachher in schmerzlicher Erkenntnis, dass es nun zu spät ist. Auf deutsch erfunden, auf kaschubisch verdorben – das Ergebnis haben wir auszukosten.

Wem eine Macht gegeben ist, der muß ihr Siegelbewahrer sein. Der muß – ausgekocht und argwöhnisch – wissen, dass es ein viel schlimmeres Geschwür am Körper des deutschen Volkes gibt als die vielberufene décadence, von der viele knapp den accent aigu kennen. Das ist der kleine Mann, der seinesgleichen peinigt, weil das das einzige ist, was ihm das Leben gab. Den schlagt auf die Finger, bis sie bluten. Denn er hat viele Herzen bluten gemacht.

Aber vorher! nicht nachher!

Ignaz Wrobel
Die Schaubühne, 26.07.1917, Nr. 30, S. 80.