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Versunkenes

Mit der Literatur der Balten ist das so eine Sache.

Sie waren, was ihren Berufssparren anbetraf, die Apotheker Europas, denn sie hatten fast sämtlich einen schönen Vogel. Diese Mischung von Verschrulltheit, entzückendem Biedermeier, schlimmster Reaktion und bezauberndster Kultur, Unzuverlässigkeit – alles ging durcheinander. Lassen wir einmal, so gut es geht, die Politik beiseite.

Da habe ich ein Büchelchen gefunden, das heißt »Versunkenes«, und die Autorin trägt den gut baltischen Namen Helene Hoerschelmann, vielleicht ist sie mit dem kleinen großen Münchner Zeichner verwandt. (Das Büchelchen ist bei Eugen Salzer in Heilbronn verlegt.) Ich schämte mich ein wenig, es anzuzeigen, weil es kein gutes Buch ist, auch keine feine Literatur – mitunter ist es süßlich – dann wieder innerlich nicht wahr – es ist eben so ein epigonenhaftes Dilettantenbuch, wie es die Balten zu Hunderten geschrieben haben. (Merkwürdig: außer Eduard von Keyserling, dem verstorbenen feinen Novellendichter, hat das Land kein bedeutsames literarisches Talent hervorgebracht – von dem Untalent des Grafen von Darmstadt ganz zu schweigen. Es ist alles blasser Tee, obgleich die Leute den herrlichsten Stoff vor der Nase hatten. Aber der Spreewald schreibt keine Ammenstücke.)

An diesem Buch ist für den, der im Land gewesen ist, und für den, der zu lesen versteht, das Schönste die Luft, das Leben jener versunkenen Tage … Am besten ist es natürlich in den persönlichen Erinnerungen getroffen: »Aus dem Kinderlande«. »Wenn die Zwiebäcke – das waren zwei Schwestern nur mit einem Jahr Altersunterschied –, als sie fünf und sechs Jahr alt waren, lange dünne Zentimetermaße um die Köpfe geschlungen, die hinten weit über den Rücken baumelten, in seligster Wunschlosigkeit durch die Zimmer gingen, im Wahn, dass nun endlich Zöpfe von fast lästiger Pracht und Fülle ihnen hinten hingen, während sie nur die rührendsten Strohschwänzchen von zehn Zentimetern Länge hatten … « Und das Strand- und Ferienerlebnis, wo der Vater, alljährlich, traditionell, den ersten Morgen am Strand ging und immer rief: »Atmet, Kinder, atmet –!« – solche Dinge sind für Dritte stets leicht komisch; aber wenn man den Zweiten spielt, gar nicht mehr.

Eines der Grundgeheimnisse: das alte Familienhaus. Einmal, von einem Garten: »Er war ganz und gar gesättigt und erfüllt von Vergangenheit, und alle waren verwachsen mit ihm.« Wie überhaupt die ungeheure Stabilität, etwas, das wir ja kaum noch kennen, dem Buch seinen Reiz als kleines Gerank am Spalier der Zeitschilderungen gibt.

Die Erzählungen sind weniger gut – stellenweise hat da die Verfasserin versucht, über ihr bescheidenes Können hinauszugehen – das ist nicht schön. Gut ist nur das Private. Wie die Kinder baden, wie sie die hohen Sturzwellen »Flut« und das Wellental »Ebbe« nennen – und wie es dann in der Privatsprache heißt: »Jetzt kommen schon die Mittelwellen … « Und Weihnachten – das sei anderswo auch möglich?

Ja. Schwerlich. Nein.

Deshalb schwerlich, weil es diese friedensgesättigte Landschaft nicht mehr gibt – die Leute, die ihre Verdrehtheit auf großen Gütern (immer auf den Köpfen eines wie gute Hunde behandelten Dienstpersonals) zu Ende leben konnten; weil man die Menschenpflanzen nicht mehr in dieser Form frei wachsen läßt – ich will gar nicht sagen, ob das gut oder schlecht ist.

Fest steht nur eines:

Daß diese Balten, deren Jugendjahre vor dem Jahre 1905 lagen, etwas Unvergeßliches, uns fast Legendäres erlebt haben: eine geschlossene, festgefügte, fast zweifelsfreie glückliche Kindheit.

Peter Panter
Die Weltbühne, 19.07.1927, Nr. 29, S. 114.