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Die Überlegenen

Deutsches Publikum, das auf Stühlen sitzt, fühlt sich Leuten, die vorbeigehen, überlegen. Die Stellung des falschen literarischen Kritikers entspricht dieser scheinbaren Überlegenheit des Sitzenden über den Laufenden – der Kritiker und der Sitzende glauben, dass der Künstler und der Laufende ihretwegen da seien. Außerdem riskieren beide nichts, »Das Publikum«, hat ein französischer Literat einmal gesagt, »hält sich dem Künstler deshalb für überlegen, weil es ein Urteil über ihn abgibt.« Dieses ›weil‹ ist eine ganze Abhandlung der menschlichen Seelenkunde.

»Der gute alte Tolstoi«, schrieb neulich so ein Fortschrittgewächs, das offenbar gar nicht fühlt, dass man keinem Großem auf die Schulter klopfen kann. Aber da werden Giganten von kleinen Verwachsenen wohlwollend belobt oder mit jener Miene in die ›verstaube Ecke‹ getan, da werden Eintagsfliegen mit Löwen zusammen genannt, damit man glaubt, die Insekten könnten brüllen, und es gibt eine ganze Literaturgattung, deren Autoren nur ein, ein einziges Bestreben haben: überlegen zu scheinen. Denn wären sie es, sie hätten nicht nötig, krampfhaft so zu tun, als seien sie es.

Das beste und beliebteste Mittel, Überlegenheit zu markieren, ist die Andeutung, Wilde, erotische Abenteuer werden lässig so angedeutet. Daß die meisten der Überlegenen mit Briand auf Sie und Sie und mit Stresemann auf Du und Du sind, versteht sich von selbst, und was das Leben im allgemeinen anbetrifft, so ist gar nicht zu sagen, wie sie es meistern. Die kleinen Mädchen und die großen Männer; die Gefühle und die Geschäfte; der Sport und die Künste – das haben wir alles im kleinen Finger, dessen sorgfältig polierte Nagelfläche wir dem Betrachter geziert entgegenhalten.

Daß junge Leute so tun, ist normal – das muß so sein und ist immer so gewesen. Aber dass ältere Knaben eine Haltung annehmen, die sie knapp bei andern richtig beobachtet haben, ohne sie je zu besitzen, dass sie in grenzenloser Eitelkeit ununterbrochen ihre Person vor das Stereoskop schieben, durch das sie den Leser gucken lassen sollen, der ja gekommen ist, ganz etwas andres zu sehen –: das ist bitter. Geltungsdrang und Minderwertigkeitskomplexe sind noch keine Literatur.

Wenn einer so überlegen tut, wäre zu überlegen, ob man ihn nicht überlegen soll.

Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 10.04.1928, Nr. 15, S. 573.